Aus Angst oder vor Angst?

Frage

Erlauben Sie bitte die folgende Frage: Wo liegt in Bezug auf die Semantik der Unterschied zwischen „aus Angst“ und „vor Angst“?

Antwort

Guten Tag Herr M.,

man kann sagen, dass aus Angst den Grund für eine bewusste Handlung angibt. Man hat Angst und diese Angst ist die Ursache für eine bewusste Reaktion:

aus Angst schweigen
aus Angst handeln
aus Angst vor etwas flüchten

Mit vor Angst gibt man den Grund für eine unwillkürliche Reaktion an. Man hat Angst und diese Angst löst eine Reaktion aus, auf die man selbst keinen Einfluss hat:

vor Angst zittern
vor Angst weinen
vor Angst außer sich sein

Die Trennung wird aber nicht immer von allen genau so eingehalten. Sie ist auch nicht immer so eindeutig. So wäre es zum Beispiel bei einem verängstigten Hund schwierig zu entscheiden, ob er sich bewusst aus Angst oder unbewusst vor Angst hinter dem Sofa versteckt.

Auch der bildliche Sprachgebrauch, dessen wir uns häufig bedienen, steht einer genauen Trennung im Weg. Wenn wir aus Angst wegrennen, haben wir Angst und beschließen wir selbst, wegzurennen. Wenn wir vor Angst wegrennen, haben wir Angst und rennen unwillkürlich weg, ohne dass wir dies vorher bewusst entscheiden. Im ersten Fall entscheiden wir selbst, im zweiten Fall übernimmt bildlich die Angst die Entscheidung. Und wenn die Angst groß genug ist oder unerwartet schnell aufkommt, lässt sich wahrscheinlich kaum entscheiden, ob wir nun aus oder vor Angst wegrennen.

Mehr hierzu und dass es auch für zum Beispiel aus/vor Freude, aus/vor Zorn, aus/vor Leidenschaft, aus Überzeugung und vor Anstrengung gilt, finden Sie in diesem schon ziemlich alten Blogartikel.

Mit freundlichem Gruß

Dr. Bopp

Die Prozentangabe und das Verb

Frage

Ich plage mich gerade mit einem Satz herum und weiß nicht, ob man hier das Verb in der Einzahl oder der Mehrzahl verwendet:

In dunklen Räumen wird/werden 50 Prozent mehr künstliches Licht benötigt.

Antwort

Guten Tag Frau D.,

hier können Sie sowohl den Singular als auch den Plural verwenden:

In dunklen Räumen werden 50 Prozent mehr künstliches Licht benötigt.
In dunklen Räumen wird 50 Prozent mehr künstliches Licht benötigt.

Das Verb richtet sich nach dem Subjekt (50 Prozent mehr künstliches Licht). Weshalb ist dann beides möglich? Der Plural werden richtet sich formal nach der Mehrzahl der Prozentangabe 50 Prozent mehr. Der Singular wird richtet sich sinngemäß nach der Einzahl künstliches Licht. Beides ist bei Formulierungen dieser Art (Prozentangabe mit Substantiv im Nominativ) standardsprachlich möglich.

Ebenso zum Beispiel:

Pro Millimeter Kalkablagerung geht/gehen etwa 10 Prozent Energie verloren.
Acht Prozent mehr Lohn ist/sind nicht zu viel verlangt.
Im letzten Jahr wurde/wurden 20 % weniger Gas verbraucht.

In den Beispielen oben folgt der Prozentangabe ein Substantiv im Nominativ. Auch wenn ihr ein Genitiv im Singular folgt, kann das Verb sowohl im Singular als auch im Plural stehen.

Dabei gehen/geht etwas zehnProzent der Energie verloren.
80 % der Kohle werden/wird auf dem Schienenweg transportiert.

Der Singular gehört dann aber eher zur gesprochenen Sprache und wird von einigen sogar als falsch angesehen. Wer gut gemeinte Verbesserungen oder weniger gut gemeinte Rügen vermeiden will, wählt deshalb in der geschriebenen Sprache besser den Plural für das Verb. Mich persönlich stört der Singular hier allerdings nicht, das heißt, ich halte ihn auch für korrekt. Ich vermute aber, dass nicht 100 Prozent der Leserschaft einverstanden sein werden/wird.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

PS: Mehr zum komplexen Thema der Kongruenz zwischen Subjekt und Verb, wenn das Subjekt eine Mengenangabe ist, finden Sie hier.

Warum „Sich zu schämen, gibt es keinen Grund” nicht richtig ist

Frage

Ich habe eine Frage zur Topikalisierung [ungefähr: im Satz an die erste Stelle vor das Verb stellen].

Es gibt keinen Grund, sich zu schämen.
Sich zu schämen, gibt es keinen Grund.

Der zweite Satz kommt mir falsch vor. Es ist ein betonter Objektsatz, ich wüsste deshalb  nicht, was daran grammatikalisch falsch sein sollte, in voranzustellen. Wenn man die Infinitivgruppe mit dafür ankündigt, ist er sicher richtig:

Dafür, sich zu schämen, gibt es keinen Grund.

Ist der Satz ohne das Verweiswort dafür grammatikalisch richtig?

Antwort

Guten Tag Herr T.,

es geht hier um die Besetzung des Vorfeldes, das heißt darum, was in einem Satz vor der finiten Verbform steht. Dort können im Prinzip alle Arten von Satzgliedern stehen.

Dort können im Prinzip alle Arten von Satzgliedern stehen.
Im Prinzip können alle Arten von Satzgliedern dort stehen.
Alle Arten von Satzgliedern können im Prinzip dort stehen.

Nicht im Vorfeld stehen können u. a. Wörter oder Wortgruppen, die keine vollständigen Satzglieder sind.

Nicht: Alle Arten können von Satzgliedern im Prinzip dort stehen.
Nicht: Von Satzgliedern können alle Arten im Prinzip dort stehen.

Diese Sätze sind nicht möglich, weil alle Arten von Satzgliedern als Ganzes ein Satzglied ist und ein Satzglied nur als Ganzes verschoben werden kann.

Das ist auch in Ihrem ersten Beispielsatz der Fall. Die Infinitivgruppe sich zu schämen ist nicht ein Objekt, sondern ein Attribut zu einem Substantiv.

Es gibt keinen Grund, sich zu schämen.
Wen oder was gibt es?
keinen Grund, sich zu schämen

Die Infinitivgruppe sich zu schämen bestimmt als Attribut das Substantiv Grund näher (mehr dazu hier). Es ist Teil des Akkusativobjekts keinen Grund, sich zu schämen. Das Akkusativobjekt kann nur als Ganzes ins Vorfeld verschoben werden (auch wenn das ohne Kontext zu einem eher seltsamen Satz führt):

Keinen Grund, sich zu schämen, gibt es.
nicht: Sich zu schämen, gibt es keinen Grund.

Bei einer Formulierung mit dafür hingegen ist die Erststellung im Satz möglich. Es liegt ihr aber eine andere Konstruktion zugrunde:

Es gibt keinen Grund dafür, sich zu schämen (keinen Grund für Scham)
Wofür gibt es keinen Grund?
dafür, sich zu schämen (für Scham)

Die Präpositionalgruppe dafür, sich zu schämen ist ein individuell erfragbares Satzglied. Entsprechend kann sie ins Vorfeld verschoben werden:

Dafür, sich zu schämen, gibt es keinen Grund.

Die Infinitivgruppe kann im zweiten Satz oben nicht an erster Stelle stehen, weil sie kein eigenständiges Satzglied, sondern „nur“ eine nähere Bestimmung innerhalb eines Satzgliedes ist. Der Satz Sich zu schämen, gibt es keinen Grund ist also nicht richtig, aber wenn er trotzdem einmal rausrutscht: Es gibt keinen Grund, sich zu schämen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Welcher Fall stimmt: im Namen unserer Mitglieder, den Sportvereinen / der Sportvereine?

Frage

Mein Sprachempfinden suggeriert mir gerade, von der Kasuskongruenz abzuweichen. Was ist richtig:

Wir tun dies im Namen unserer Mitglieder, der 128 Sportvereine (kongruent).
Wir tun dies im Namen unserer Mitglieder, den 128 Sportvereinen (mein Sprachempfinden)

Antwort

Guten Tag Herr O.,

es handelt sich hier um eine Apposition, das heißt eine Substantivgruppe  (die 128 Sportvereine), die eine andere Substantivgruppe (hier: unsere Mitglieder) näher bestimmt. Wenn das Substantiv der Apposition wie in Ihrem Satz einen Artikel bei sich hat, steht die Apposition im gleichen Fall wie die Bezugsgruppe:

Unsere Mitglieder, die 128 Sportvereine, haben uns beauftragt.
Wir tun dies für unsere Mitglieder, die 128 Sportvereine.
Wir tun dies zusammen mit unseren Mitgliedern, den 128 Sportvereinen.
Wir tun dies im Namen unserer Mitglieder, der 128 Sportvereine.

Standardsprachlich gilt hier nur die Übereinstimmung im Kasus als korrekt. Es muss also heißen:

Wir tun dies im Namen unserer Mitglieder, der 128 Sportvereine.

Sie stehen aber mit Ihrem Sprachempfinden keineswegs allein. Immer häufiger wird bei Appositionen dieser Art der Dativ anstelle des eigentlich geforderten Falles verwendet:

Wir tun dies im Namen unserer Mitglieder, den 128 Sportvereinen. [?]

Vor allem bei längeren Sätzen fällt das oft gar nicht auf, aber es gilt standardsprachlich (noch?) nicht als korrekt. Hier noch ein paar Beispiele:

die Preiserhöhung für Erdöl, den wichtigsten Grundstoff in der Reifenproduktion
(besser nicht: die Preiserhöhung für Erdöl, dem wichtigsten Grundstoff in der Reifenproduktion)

Er reiste in Begleitung seines Freundes, eines sehr erfahrenen Rangers.
(besser nicht: Er reiste in Begleitung seines Freundes, einem sehr erfahrenen Ranger.)

Das lässt sich am besten am Beispiel Brasiliens, des größten Landes des Subkontinents, zeigen.
(besser nicht: Das lässt sich am besten am Beispiel Brasiliens, dem größten Land des Subkontinents, zeigen.)

Vielleicht finden Sie beim Lesen der Beispiele, dass die „falschen“ Formulierungen gar nicht so falsch klingen. Dennoch gilt – wie gesagt – die Verwendung des Dativs dort, wo er sich nicht auf einen Dativ bezieht, standardsprachlich nicht als korrekt. Das wird sich vielleicht einmal ändern, denn Fragen zu diesem Thema tauchen hartnäckig immer wieder auf. So gab es schon vor Jahren einmal einen Blogartikel mit dem Titel Die Apposition und der Dativ.

Mehr Informationen über das komplexe Thema der Fallkongruenz bei Appositionen finden Sie auf dieser Seite in der LEO-Grammatik.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Hilfsverb „werden“ am Satzende: „dass er ins Kino wird gehen müssen“ oder „dass er ins Kino gehen müssen wird“ oder …?

Frage

Wir haben ein sprachliches Problem. Was ist korrekt, was ist möglich?

Peter glaubt, dass er mit der Freundin ins Kino wird gehen müssen.
Peter glaubt, dass er wird mit der Freundin ins Kino gehen müssen.
Peter glaubt, dass er mit der Freundin wird ins Kino gehen müssen.

Konkret gefragt: Wo steht das konjugierte Verb „werden“?

Antwort

Guten Tag Frau S.,

wenn mehrere Verbformen am Ende eines Nebensatzes stehen, kann die Wortstellung tatsächlich zur Herausforderung werden. Häufig geht es spontan gut, aber wenn man einmal anfängt darüber nachzudenken …

Nach den Angaben in den Grammatiken sind diese beiden Formulierungen richtig:

a) Peter glaubt, dass er mit der Freundin ins Kino gehen müssen wird.
b) Peter glaubt, dass er mit der Freundin ins Kino wird gehen müssen.

a) Wenn das Hilfsverb werden in Kombination mit zwei oder mehr Infinitiven in einem Nebensatz steht, kann die konjugierte Verbform von werden nach der allgemeinen Regel ganz am Schluss stehen. Die allgemeine Regel sagt, dass die konjugierte Verbform in einem eingeleiteten Nebensatz am Schluss steht:

Das ist nicht etwas, woran man sich erinnern können wird.
Ich werde nicht überrascht sein, weil ich euch kommen hören werde.
Sie befürchtet, dass er die Kinder nicht gehen lassen wird.
Peter glaubt, dass er mit der Freundin ins Kino gehen müssen wird.

b) Nach einer Sonderregel kann das Hilfsverb werden auch vor den Infinitiven stehen, wie dies beim Hilfsverb haben der Fall ist (siehe hier).

Mit haben:

Das ist nicht etwas, woran man sich hätte erinnern können.
Ich bin nicht überrascht, weil ich euch habe kommen hören (auch: kommen hören habe).
Sie befürchtet, dass er die Kinder nicht hat gehen lassen (auch: gehen lassen hat).
Peter ist froh, dass er mit der Freundin ins Kino hat gehen dürfen.

Mit werden entsprechend auch:

Das ist nicht etwas, woran man sich wird erinnern können.
Ich werde nicht überrascht sein, weil ich euch werde kommen hören.
Sie befürchtet, dass er die Kinder nicht wird gehen lassen.
Peter glaubt, dass er mit der Freundin ins Kino wird gehen müssen.

Andere Wortstellungen kommen ebenfalls mehr oder weniger häufig vor (siehe die Beispiele in Ihrer Frage). Sie gelten aber als regional und/oder umgangssprachlich.

Es ist nicht erstaunlich, dass es bei Sätzen dieser Art oft zu einer gewissen Verunsicherung kommt. Ich hoffe, dass diese Ausführungen dann hilfreich sein können werden oder hilfreich werden sein können – oder ganz einfach: hilfreich sind. Häufig kann man das Problem vermeiden, indem man einfacher formuliert.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Komischerweise wird „komischer Weise“ zusammengeschrieben

Frage

Bei den Beispielen in Ihrem Wörterbucheintrag „Weise“ erwähnen Sie, komischer Weise, das Beispiel „komischer Weise“ nicht. Es stehen nur Beispiele mit „in“ und „auf“.

Antwort

Guten Tag Herr W.,

Sie finden das Beispiel komischer Weise nicht beim Wörterbucheintrag Weise, weil man komischerweise in einem Wort schreibt (siehe hier):

komischerweise

Adverbien der Form  -erweise werden immer in einem Wort geschrieben (siehe auch hier):

bedauerlicherweise, bemerkenswerterweise, dummerweise, fairerweise, freundlicherweise, gerechterweise, klugerweise, komischerweise, leichtsinnigerweise, logischerweise, natürlicherweise, richtigerweise, schlauerweise, seltsamerweise, unbegreiflicherweise, vorsichtigerweise, wunderbarerweise u.v.a.m. (auch spontane Neubildungen)

Das war nicht immer so. Die Bildungen auf -erweise waren ursprünglich adverbiale Genitive (wie eines Tages, meines Erachtens, stehenden Fußes usw.): Man verband das Substantiv Weise mit einem Adjektiv und verwendete diese Wortgruppe im Genitiv, um anzugeben, in welcher Weise etwas geschieht oder zu verstehen ist. Solche Bildungen kamen sehr häufig vor. Es folgen nur ein paar Beispiele illustrer Autoren aus früheren Zeiten.

Goethe schrieb im Gedicht Zahme Xenien I (Ausgabe letzter Hand, 1827):

Hab ich gerechter Weise verschuldet
diese Strafe in alten Tagen?

In Schillers Die Jungfrau von Orleans (4. Aufzug, 10. Auftritt, 1801) sagt der König:

Von Gott allein, dem höchsten Herrschenden,
Empfangen Frankreichs Könige die Krone.
Wir aber haben sie sichtbarer Weise
Aus seiner Hand empfangen.

Und in Johann Gottfried Herders Abhandlung Über den Ursprung der Sprache (1770) liest man:

Die ganze rousseausche Hypothese von Ungleichheit der Menschen ist, bekannter Weise, auf solche Fälle der Abartung gebaut

In neuerer Zeit wurden diese attributiven Genitive als formelhaft empfunden und in der Schrift zu einem Wort zusammengerückt. Heute werden diese Bildungen als Ableitungen mit einem Suffix -erweise (oder mit Fuge er und -weise) empfunden und immer zusammengeschrieben. In Neuausgaben älterer Werke mit angepasster Rechtschreibung findet man deshalb zum Beispiel gerechterweise statt gerechter Weise und bekannterweise statt bekannter Weise.

Man schreibt also komischerweise und nicht komischer Weise, weil Bildungen dieser Art nicht mehr als Wortgruppen, sondern als Ableitungen empfunden und entsprechend zusammengeschrieben werden.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

PS: Das oben Gesagte gilt nur, wenn die Verbindung ohne auf oder in steht. Adverbiale Wendungen mit auf oder in und Weise werden getrennt geschrieben:

auf ähnliche Weise
in gleicher Weise
in komischer Weise

Wendungen dieser Art sind deshalb im Wörterbuch – wenn überhaupt – unter Weise zu finden.

Wer weiß/wusste, wozu er imstande ist/war?

Frage

Ich möchte in einem Text in der personalen Perspektive die Gedanken einer Figur aufschreibe und ausdrücken, dass sie sich fragt: „Wer weiß, wozu er imstande ist?“ Im Präsens ist das ja ganz einfach, aber im Präteritum? „ Wer weiß, wozu er imstande war“, geht das? Ich habe noch nie gelesen „Wer wusste, wozu er imstande war“.

Antwort

Guten Tag Frau W.,

die Formulierung „Wer wusste, wozu er imstande war?“ ist korrektes und gebräuchliches Deutsch:

Sei fragt sich, wer weiß, wozu er imstande ist?
Sie fragte sich, wer wusste, wozu er imstande war?

Wer weiß, wozu sie fähig ist?
Wer wusste, wozu sie fähig war?

Wer wusste, wozu es gut sein konnte?

Wer wusste schon, wozu es gut war?

Bei Gegenwartsbezug, also wenn das Imstandesein auch im Sprechzeitpunkt noch gilt, ist auch das Präsens möglich:

Wer wusste, wozu er imstande ist.
(vgl. Wer wusste [damals], wozu er [auch heute noch] imstande ist.)

Auch die folgende Formulierung ist möglich. Damit wird aber gesagt, dass man sich heute fragt, wozu er früher imstande war:

Wer weiß, wozu er imstande war.
(vgl. Wer weiß [heute], wozu er [damals] imstande war.)

Wirklich feste Regeln zum Tempusgebrauch gibt es im Deutschen übrigens nicht. Deshalb kommen – auch im Standarddeutschen – weitere Formulierungsarten vor.

Sie zweifeln vielleicht, weil  Sie dieses wer weiß als rein formelhafte Verstärkung eines Zweifels verstehen und wusste deshalb für Sie nicht richtig passen will. Dann können Sie auch erwägen, schon einzufügen oder bei der direkten Rede zu bleiben:

Wer wusste schon, wozu er imstande war.
Sie fragte sich: „Wer weiß, wozu er imstande ist?“

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Kein Komma vor „aber“: „Dies gilt besonders (aber nicht nur) für sie“?

Frage

Ich bin soeben über folgenden Satz gestolpert und frage mich, wie dieser zu behandeln ist:

Dies gilt besonders (aber nicht nur) für die Jugendhilfe, deren Stellung und Aufgaben erheblich ausgeweitet wurden.

Ohne die Klammer müsste – sofern ich mich nicht täusche? – vor dem „aber“ ein Komma stehen. Es in die Klammer hineinzuziehen, wirkt allerdings kontraintuitiv (salopp gesprochen: Es sieht einfach sehr merkwürdig aus). Da ich diesbezüglich keine Regelungen finden konnte, wollte ich fragen, ob Sie weiterhelfen können?

Antwort

Guten Tag Herr K.,

dieser Satz kommt ohne ein Komma vor aber aus:

Dies gilt besonders (aber nicht nur) für die Jugendhilfe …

Das ergibt sich indirekt aus zum Beispiel den folgenden Beispielsätzen in § 86 der amtlichen Rechtschreibregelung:

Eines Tages (es war mitten im Sommer) hagelte es.

Wir gingen in die Hütte (einen kalten Raum mit kleinen Fenstern) und zündeten ein Feuer an.

Sie isst gern Obst (besonders Apfelsinen und Bananen).

In diesen Beispielen steht kein Komma, wenn der Einschub in Klammern steht. Die Klammern ersetzen jeweils das Komma.

Ganz so einfach ist es aber doch nicht. Kommas fallen bei Einschüben in Klammern nur dann weg, wenn ohne den Einschub kein Komma steht. Das ist in den Beispielsätzen oben so:

Eines Tages (es war mitten im Sommer) hagelte es.
vgl. Eines Tages hagelte es.

Wir gingen in die Hütte (einen kalten Raum mit kleinen Fenstern) und zündeten ein Feuer an.
vgl. Wir gingen in die Hütte und zündeten ein Feuer an.

Sie isst gern Obst (besonders Apfelsinen und Bananen).
vgl. Sie isst gern Obst.

Dies gilt besonders (aber nicht nur) für die Jugendhilfe …
vgl. Dies gilt besonders für die Jugendhilfe …

ABER: Wenn ein Komma zum Restsatz gehört, das heißt, wenn es auch ohne den Einschub stehen muss, wird es auch mit dem Einschub geschrieben:

Wir gingen in die Hütte (einen kalten Raum mit kleinen Fenstern), wo wir ein Feuer anzündeten.
vgl. Wir gingen in die Hütte, wo wir ein Feuer anzündeten.

Sie isst gern Obst (wenn möglich aus biologischem Anbau), besonders Apfelsinen und Bananen.
vgl. Sie isst gern Obst, besonders Apfelsinen und Bananen.

Dies gilt besonders (das ist nicht erstaunlich), aber nicht nur für die Jugendhilfe.
vgl. Dies gilt besonders, aber nicht nur für die Jugendhilfe.

Und alles was hier über Einschübe in Klammern steht, gilt auch für Einschübe in paarigen Gedankenstrichen:

Dies gilt besonders – aber nicht nur – für die Jugendhilfe …

Dies gilt besonders – das ist nicht erstaunlich –, aber nicht nur für die Jugendhilfe.

Ganz gleich ist das Vorgehen aber doch nicht immer, weil man nie zwei Kommas, aber doch einen Gedankenstrich und ein Komma aufeinander folgen lassen kann. Das zeigt der folgende abschließende Satz:

Zum Glück macht man es doch meistens richtig, so hoffe ich, ohne dass man allzu lange nachdenken muss.

Zum Glück macht man es doch meistens richtig – so hoffe ich –, ohne dass man allzu lange nachdenken muss.

Wirklich?

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Heißt es „etwas, was“ oder „etwas, das“?

Frage

Ich beziehe mich auf die Diskussion über etwas das/was in diesem Blogartikel. Vor Jahrzehnten hatte ich fast schon Streit darüber mit einem meiner Übersetzer. — In meiner kleinen Welt (bin Autor) ist das eine Relativkonstruktion, daher nehme ich mir heraus, das Relativpronomen zu verwenden. Das kann doch so falsch nicht sein. Was sagen Sie?

Antwort

Guten Tag Herr L.,

Sie machen nichts falsch, ob Sie nun das Relativpronomen das oder das Relativpronomen was verwenden (hier ist beides ein Relativpronomen). Wie im zitierten Artikel steht, gilt sowohl etwas, was als auch etwas, das als korrekt – dies auch standardsprachlich.

Das ist etwas, was ich nicht verstehe.
Das ist etwas, das ich nicht verstehe.

Gemäß der „Grammatikregel“ steht das Relativpronomen was nach sächlichen Demonstrativ- und Indefinitpronomen wie zum Beispiel das, dasjenige, dasselbe; alles, einiges, nichts, vieles, manches, weniges, etwas u. a.

Das, was du hier siehst …
Ihr habt alles, was man sich nur wünschen kann.
Es gibt einiges, was ich nicht verstehe.
Du sagst dasselbe, was du gestern schon behauptet hast.

Das gilt im Prinzip auch für das Indefinitpronomen etwas. Hier wird dennoch häufig das verwendet. Dies geschieht unter anderem aus stilistischen Gründen, weil dadurch die Wiederholung von was verhindert wird:

Das ist etwas, was nicht alle akzeptieren.
Das ist etwas, das nicht alle akzeptieren.

Wer es strengen Grammatikerinnen recht machen will, nimmt etwas, was. Wer es strengen Stilisten recht machen will, wählt etwas, das. Alle anderen nehmen das, was ihnen besser gefällt. Es geht hier also nicht um etwas, was oder das zu Streit führen sollte.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Gedankenstrich ist nicht gleich Gedankenstrich

Frage

Wie wird im folgenden Satz das finite Verb korrekt konjugiert (man beachte den Gedankenstrich)?

Umso wichtiger ist/sind eine gute Zusammenarbeit – und eine vertrauensvolle Basis.

In diesem Fall komme ich trotz Recherche in Fachliteratur nicht voran.

Antwort

Guten Tag Herr B.,

die Verunsicherung entsteht tatsächlich durch den Gedankenstrich, der mehr als nur eine Funktion und Bedeutung haben kann. Ohne Gedankenstrich sollte das Verb im Plural stehen:

Umso wichtiger sind eine gute Zusammenarbeit und eine vertrauensvolle Basis.

Mit dem Gedankenstrich vor und kann das Verb in diesem Satz im Plural oder im Singular stehen, je nachdem welche Bedeutung und wie viel Gewicht man dem Gedankenstrich zumisst. Zum Beispiel:

Wenn der Gedankenstrich eine (einfache, effektvolle oder dramatische) Pause angibt, steht er sozusagen innerhalb der Satzstruktur, die danach weitergeführt wird. Das Verb steht entsprechend weiterhin im Plural:

Umso wichtiger sind eine gute Zusammenarbeit – und eine vertrauensvolle Basis.

Wenn der Gedankenstrich angibt, dass ein Nachtrag folgt (zum Beispiel so etwas wie ach ja, und …), kann das Verb auch im Singular stehen. Wählt man den Singular, wird die Satzstruktur nach Zusammenarbeit abgeschlossen. Danach folgt eine Ergänzung, die man, wenn man so will, als unvollständigen Satz interpretieren kann:

Umso wichtiger ist eine gute Zusammenarbeit – und eine vertrauensvolle Basis.

Mit dem Singular ist der Unterbruch, den der Gedankenstrich angibt, anders und stärker als mit dem Plural. An Ihnen die Wahl, was besser passt.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp