Verbformenreiche Formulierung:
Soll er sich haben ansprechen lassen, ansprechen haben lassen oder ansprechen lassen haben?

Frage

Wie sollte man Ihrer Meinung nach in diesem Satz die Verben anordnen? „Er soll sich mit ,Boss‘ ansprechen haben lassen“ („haben ansprechen lassen“, „ansprechen lassen haben“?). Ich finde im Duden leider nichts dazu und auch nicht in Ihrem Blog-Archiv unter dem Stichwort „Infinitiv(e)“.

Antwort

Guten Tag Herr H.,

hier haben wir es wieder einmal mit einer Anhäufung von Verbformen zu tun, die nicht allzu oft vorkommt und bei der man leicht ins Stolpern geraten kann – vor allem wenn man anfängt, darüber nachzudenken.

Als standardsprachlich korrekt gilt hier:

Er soll sich mit Boss haben ansprechen lassen.
Er soll sich mit Boss ansprechen lassen haben.

Die allgemeine Regel lautet so:

Wenn eine Verbgruppe einen Ersatzinfinitiv von heißen, lassen, helfen, sehen, fühlen, hören enthält und dieser Ersatzinfinitiv vom Hilfsverb haben abhängig ist, wird das finite Hilfsverb im Nebensatz in der Regel vor die Verbgruppe gestellt. Zumindest bei lassen, sehen, fühlen, hören gilt aber die Endstellung des finiten Hilfsverbs auch als korrekt.

dass er sich mit Boss hat ansprechen lassen
dass er sich mit Boss ansprechen lassen hat

ob jemand die Verdächtigen habe weggehen sehen
ob jemand die Verdächtigen weggehen sehen habe

obwohl er das Kind hatte weinen hören
obwohl er das Kind weinen hören hatte

Die Regel gilt auch im folgenden Fall, in dem noch eine Verbform hinzukommt:

Das Hilfsverb haben steht auch dann vor den anderen Infinitiven, wenn es selbst im Infinitiv steht.

Er soll sich mit Boss haben ansprechen lassen.
Er soll sich mit Boss ansprechen lassen haben.

Jemand musste die Verdächtigen haben weggehen sehen.
Jemand musste die Verdächtigen weggehen sehen haben.

Er will das Kind haben weinen hören.
Er will das Kind weinen hören haben.

Siehe hierzu auch die LEO-Grammatik; Duden, Grammatik, 9. Auflage, 2016, Randnummer 684; Duden, Grammatik, 10. Auflage, 2022, Randnummer 658 ff.

Wie die Beispiele zeigen, sind Formulierungen dieser Art schwierig zu verwenden, ebenso schwierig zu erklären und manchmal auch gar nicht so einfach zu verstehen. Wenn sie nicht spontan der Tastatur entspringen oder wenn man zweifelt, ist es oft besser, etwas weniger verbformenreich zu formulieren.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Von nichts zum Nichts

Frage

Heute geht es mal um „nichts“. Spaß beiseite: In einer Zeitungsüberschrift stand heute: „Von Nichts bis Amoklauf ist alles möglich.“ Ist die Großschreibung von „Nichts“ hier korrekt? Ich tendiere eher zur Kleinschreibung, aber das sieht irgendwie auch merkwürdig aus.

Antwort

Guten Tag Herr A.,

hier sollte nichts tatsächlich kleingeschrieben werden. Nach § 58(4) der Rechtschreibregelung schreibt man Pronomen auch dann klein, wenn sie als Stellvertreter von Substantiven verwendet werden. Man schreibt das Pronomen nichts somit auch dann klein, wenn es von einer Präposition abhängig ist:

sich in nichts auflösen
mit nichts anfangen
viel Lärm um nichts
von nichts kommt nichts
aus nichts Neues schaffen

Entsprechend schreibt man nichts in Ihrem Beispiel klein, auch wenn es vielleicht manchen etwas seltsam vorkommt:

Von nichts bis Amoklauf ist alles möglich.

Man schreib groß, wenn das Substantiv das/ein Nichts gemeint ist. Das ist in der Regel in Verbindung mit einem Artikelwort der Fall:

vor dem Nichts stehen
sich über ein Nichts aufregen
aus dem Nichts auftauchen
aus dem Nichts Neues schaffen
Vom Nichts bis zum Amoklauf ist alles möglich.

Das ist zwar nicht nichts, aber doch relativ einfach und sollte somit nicht zu verzweifelten Amokläufen Anlass geben.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Morbus helveticus, Heimweh und Auffahrt

Frage

Wie schreibe ich folgenden Begriff korrekt: „Schweizer Krankheit“ oder „Schweizerkrankheit“? Oder sind beide Schreibweisen gleichermaßen möglich? Im WWW finden sich genauso viele Belege für „Schweizer Krankheit“ wie für „Schweizerkrankheit“ .

Antwort

Guten Tag Herr B.,

es gibt hier offenbar keine gefestigte Schreibung. Möglich und vertretbar ist beides:

Schweizer Krankheit = schweizerische Krankheit
Schweizerkrankheit = Krankheit der Schweizer
(Morbus helveticus = Heimweh)

Welches der beiden mit Morbus helveticus gemeint ist, lässt sich nicht eindeutig festlegen. Vergleiche hierzu ähnlich aufgebaute Krankheitsbegriffe und deren Schreibung in den Wörterbüchern:

französische/Französische Krankheit o. Franzosenkrankheit
(Morbus gallicus = Syphilis)
englische/Englische Krankheit
(Morbus Anglorum = Rachitis)

Sie können also Schweizer Krankheit oder Schweizerkrankheit schreiben. Es empfiehlt sich allerdings, innerhalb eines Textes oder einer Textreihe immer die gleiche Variante zu verwenden.

Der Begriff ist eine Bezeichnung für (krankhaftes) Heimweh, das Ende des 17. Jahrhunderts wahrscheinlich zum ersten Mal in der Schweiz beschrieben wurde. Dass die „Krankheit“ Schweizerkrankheit oder Schweizer Krankheit genannt wurde, soll an den vielen im Ausland engagierten Schweizer Söldnern gelegen haben, die daran litten.

Dass es gerade hier zu unterschiedlichen Schreibungen kommt, hat zwar nicht damit zu tun, es sieht aber wie ein Symptom einer anderen Schweizer „Krankheit“ aus: andere Rechtschreibgepflogenheiten als im Rest des deutschen Sprachraumes. So genießt man in der Schweiz zum Beispiel die Aussicht auf den Genfersee und wohnt man an der Baslerstrasse statt auf den Genfer See und an der Basler Straße (siehe diesen uralten Blogartikel zum Tessinerbrot).

Der morgige Tag zeigt übrigens, dass es auch bei der Wortwahl gewissen Eigenheiten gibt: Während man morgen im Allgemeinen Christi Himmelfahrt feiert und viele sich ein verlängertes Himmelfahrtswochenende gönnen, nennt man dies in der Schweiz Auffahrt und Auffahrtswochenende (mit Auffahrt ist also selbst in Schweizer Wintersportregionen nicht die Bergfahrt in einer Bergbahn vor der Skiabfahrt gemeint).

Schöne Himmelfahrt oder eben Auffahrt!

Dr. Bopp

Hexenbutter

Beim Wandern in der freien Natur fiel unser Auge auf etwas leuchtend Gelboranges, das ich zuerst als ein vor Kurzem weggeworfenes Stück Orangenschale ansah. Bei näherer Betrachtung war sofort klar, dass es etwas anderes sein musste. Aber was?

Mit Hilfe dieses Fotos und der online verfügbaren Suchhilfen kamen wir zum Schluss, dass es sich um Folgendes handeln musste: Gelbe Lohblüte oder Hexenbutter (Fuligo septica). Das ist eine Art Schleimpilz, der offenbar häufig vorkommt, mir aber vorher nie bewusst unter die Augen gekommen ist.

Hier geht es mir weniger ums Botanische (siehe dazu z. B. Wikipedia) als vielmehr um den Namen. Schon die Tatsache, dass es sich um einen „Schleimpilz“ handelt, ruft fantasievollste Assoziationen mehr oder weniger angenehmer Art auf. Noch schöner ist aber „Hexenbutter“. Die weiche, fast unnatürlich hellleuchtende Masse im Wald muss ein Klecks Butter sein, der von oder für Hexen gemacht wurde. Was denn sonst?!

Die Gelbe Lohblüte wird in verschiedenen Sprachen Hexenbutter genannt. Zum Beispiel:

dt.: Hexenbutter
nl.: heksenboter
poln.: masło czarownicy
lett.: ragansviests

Auch in anderen Sprachen ließ man der Fantasie bei der Namensgebung den freien Lauf. In den skandinavischen Sprachen heißt Fuligo septica ins Deutsche übersetzt „Trollbutter“. Nördliche Wälder werden von Trollen bewohnt, die offenbar wie die hiesigen Hexen auch hin und wieder ein wenig Butter im Wald verschütten.

dän.: troldsmør
nor.: trollsmør
schwe.: trollsmör

Damit ist das Repertoire aber noch lange nicht ausgeschöpft. Hier noch ein paar schöne Beispiele:

lett.: Hexenspucke (raganu spļāviens)
nor.: Trollspucke (trollspytt)
fin.: Parabutter (paranvoi [von einem Para, d.h. einem Fabelwesen, verschüttete Butter])
eng: Rühreischleim (scrambled egg slime)
engl: Hundekotzschleimpilz (dog vomit slime mold)
frz.: Hundekotze (vomi de chien)
port.: Hundekotze (vômito-de-cão)

Auch der lateinische Name ist, wenn man ihn wörtlich nimmt, nicht allzu schmeichelhaft:

lat.: Verwesungsruß (fuligo septica)

Daneben gibt es aber auch Namen, die sich weder an der Folklore noch an der eher unangenehmen Konsistenz dieses Schleimpilzes orientieren, sondern an seiner Farbe und Schönheit:

poln.: Schaumblüte (wykwit piankowaty)
ung.: Rainfarn-Schleimpilz (cservirág nyálkagomba)
frz.: Lohblüte (fleur de tan)
dt.: Gelbe Lohblüte

Was es nicht alles auf einem Nachmittagsspaziergang im Wald zu entdecken gibt!

Ist man über den Berg oder über dem Berg (wenn man das Gröbste hinter sich hat)?

Frage

Erlauben Sie bitte die folgende Frage:

Er ist über den Berg (er hat die Krise überstanden)!

Frage: Weshalb steht hier der Akkusativ? Keine statische Situation?

Antwort

Guten Tag Herr M.,

wer über den Berg ist oder noch nicht über den Berg ist, hat die größte Schwierigkeit überwunden oder eben noch nicht überwunden. Es geht also um eine Situation, in der man sich befindet. Weshalb steht dann der Berg in der Redewendung im Akkusativ und nicht im Dativ (vgl. statisch über dem Berg und dynamisch über den Berg)?

Den Akkusativ kann man damit verteidigen, dass die Wendung als Verkürzung von (noch nicht) über den Berg gegangen/gekommen sein verstehen kann. Grammatisch lässt sich dieses Fallwahl somit einigermaßen „logisch“ erklären.

Seltener wird allerdings auch über dem Berg sein gesagt. Dass hier häufiger der Akkusativ als der Dativ steht, lieg an der Bedeutung von über. Hier ist nicht über = oberhalb gemeint, sondern das über, das mit dem Akkusativ steht und einen Ort angibt, der überquert wird (über den Platz gehen, über die Brücke fahren, über den Zaun springen, über den Berg gehen).

Nur das erste über ist eine sogenannte Wechselpräposition, die mit dem Akkusativ  (Angabe des Ziels der Handlung)  oder mit dem Dativ (statische Ortsangabe) stehen kann:

Sie hängten das Poster über das Sofa.
Das Poster hing über dem Sofa.

Beim zweiten über, um das es hier geht, fehlt sozusagen die statische Variante. Wenn man über den Berg gegangen ist, ist man danach nicht über dem Berg, sondern jenseits oder auf der anderen Seite des Berges:

Sie gingen über die Brücke.
Sie waren auf der anderen Seite/jenseits der Brücke.

über den Berg gehen
jenseits/auf der anderen Seite des Berges sein

Mit über dem Berg wird also eigentlich oberhalb des Berges gesagt. Vgl. zum Beispiel:

Dunkle Wolken hängen über dem Berg.
Der Adler kreist über dem Berg.

Darum steht über in Wendungen, bei denen sprichwörtlich Berge überwunden worden sind,  am besten mit dem Akkusativ:

über den Berg sein (die Krise überwunden haben)
längst über alle Berge sein (längst auf und davon / weit weg sein)

Nicht jedes über wird mit dam Akkusativ und dem Dativ verwendet oder: Das eine über ist das andere nicht.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Genuszuteilung: warum der Superlativ und das Diminutiv?

Frage

Kennen Sie eine Erklärung dafür, dass es bspw. „der Superlativ“ heißt, aber nicht „der Diminutiv“, sondern „das Diminutiv“? Mir kommt hier die Zuordnung unterschiedlicher grammatischer Geschlechter unlogisch vor.

Antwort

Guten Tag Herr Z.,

diese Substantive sind eine besondere Art substantivierte Adjektive. Sie wurden aus dem Lateinischen übernommen, wo sie als Adjektiv zu einem bestimmten Substantiv gehören. Häufig wird das Geschlecht des betreffenden Substantivs auf das substantivierte Adjektiv übertragen:

(casus [m.]) nominativus → der Nominativ
(modus [m.]) coniunctivus → der Konjunktiv
(gradus [m.]) superlativus → der Superlativ

(nomen [n.]) substantivum → das Substantiv
(pronomen [n.]) reflexivum → das Reflexiv
(nomen [n.]) diminutivum → das Diminutiv

Die weiblichen Substantive auf -ative kommen vielfach aus dem Französischen. Auch hier kann man in der Ursprungssprache häufig ein (in diesem Fall weibliches) Wort hinzudenken, nach dem sich die Form und das Wortgeschlecht der Substantivierung richtet:

(la proposition [f.]) alternative → die Alternative
l’initiative [f.] → die Initiative
(l’assemblée [f.] ) législative → die Legislative

Ganz unlogisch und willkürlich ist die Zuteilung des Genus bei Wörtern dieser Art also nicht. So einfach oder eben komplex kann die Wortgeschichte sein.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Ich dachte, Luchse seien/wären/sind kleiner

Frage

Wir diskutieren gerade die Frage, wie es heißt: „Ich dachte, Luchse seien/wären/sind  kleiner.“ Was sagen Sie?

Antwort

Guten Tag Frau H.,

zuerst muss gesagt werden, dass es im Deutschen bei der Tempus- und Moduswahl nur wenige feste Regeln gibt. Vieles kommt vor und vieles ist möglich. Eine einfache und eindeutige Antwort  kann ich Ihnen auch hier nicht geben.

Richtig ist hier sicher der Konjunktiv I, der zur indirekten Rede gehört:

Ich dachte, Luchse seien kleiner.

Der Indikativ kommt auch vor. In einem uneingeleiteten Nebensatz gilt er hier aber als umgangssprachlich:

Ich dachte, Luchse sind kleiner.

So formuliert mal also besser nicht (siehe aber unten beim dass-Satz).

Auch der Konjunktiv II kommt hier vor, er ist aber sozusagen überflüssig. Man wählt in der Standardsprache den Konjunktiv II dann, wenn der Konjunktiv I sich nicht vom Indikativ unterscheidet. Das ist hier nicht der Fall (seien bzw. sind). 

Ich dachte, Luchse wären kleiner.

Auch so formuliert man besser nicht, denn es ist zumindest stilistisch weniger gut.

Anders sieht es aus, wenn man statt des uneingeleiteten Nebensatzes einen dass-Satz verwendet. Dann ist der Indikativ auch möglich:

Ich dachte, dass Luchse kleiner seien.
Ich dachte, dass Luchse kleiner sind.

Und wenn es um Luchse geht, die es zum Sprechzeitpunkt nicht mehr „aktuell“ sind:

Ich dachte, dass Luchse früher kleiner waren.

Noch einmal anders sieht es aus, wenn man ich denke statt ich dachte verwendet. Dann ist der Indirektheitskonjunktiv nicht mehr möglich. Mehr dazu lesen Sie in diesem Artikel.

Sie dachten vielleicht, es gebe eine eindeutige Antwort / dass es eine eindeutige Antwort gebe / dass es eine eindeutige Antwort gibt. Es gibt sie aber – je nachdem, ob man strenge Regeln oder mehr sprachliche Freiheit vorzieht – leider oder zum Glück nicht.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Kardinäle, die unter 80 Jahre[n] alt sind – mit oder ohne n?

Frage

Eine Kasusfrage zur folgenden Formulierung: „alle Kardinäle, die unter 80 Jahren alt sind“. Muss es nicht heißen: „alle Kardinäle, die unter 80 Jahre alt sind“?

Antwort

Guten Tag Herr Z.,

auch wenn man es des Öftern anders hört und liest, richtig ist hier die unter 80 Jahre alt sind. In dieser Formulierung ist unter keine Präposition, sondern ein Adverb, das keinen Einfluss auf den Fall des Nachfolgenden hat.

Wenn unter vor einer Zahlenangabe steht und durch weniger als ersetzt oder weggelassen werden kann, hat es keinen Einfluss auf den Fall des nachfolgenden Ausdruckes:

Kardinäle, die 80 Jahre alt sind
Kardinäle, die weniger als 80 Jahre alt sind
Kardinäle, die unter 80 Jahre alt sind

Kardinäle von 80 Jahren
Kardinäle von weniger als 80 Jahren
Kardinäle von unter 80 Jahren

Wenn man unter nicht durch weniger als ersetzen oder weglassen kann, folgt der Dativ:

Kardinäle unter 80 Jahren

Sie haben also recht. Nur Kardinäle, die unter 80 Jahre alt sind, können den Papst wählen. Es heißt also richtig:

Wahlberechtigt sind alle Kardinäle, die unter 80 Jahre alt sind.

Aber:

Wahlberechtigt sind alle Kardinäle unter 80 Jahren.

Das gilt übrigens auch für über und bis zu:

Kardinäle, die über 80 Jahre alt sind, können nicht an der Papstwahl teilnemen.
Kardinäle über 80 Jahren können nicht an der Papstwahl teilnehmen.

Wahlberechtigt sind nur Kardinäle, die bis zu 80 Jahre alt sind.
Wahlberechtigt sind nur Kardinäle bis zu 80 Jahren.

Siehe auch hier und hier.

Wer als Papst gewählt worden sein wird, wenn weißer Rauch aus dem Schornstein der Sixtinischen Kappelle aufsteigt, wissen wir natürlich noch nicht. Wir wissen nur, dass er wahrscheinlich unter 80 Jahre alt sein wird (und männlich und katholisch und …).

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Das höfliche „Sie“ für eine und für mehrere Personen

Frage

Ich habe gelesen, dass die Höflichkeitsform im Plural identisch sei mit der Höflichkeitsform im Singular. Ist das richtig? […]

Singular, zu einer einzelnen Person: „Haben Sie alles gefunden, was Sie brauchen?“
Plural, zu einer Personengruppe: „Haben Sie alles gefunden, was Sie brauchen?“

Singular, zu einer einzelnen Person: „Ich gebe Ihnen den Schlüssel zu den Gebäuden.“
Plural zu einer Personengruppe: „Ich gebe Ihnen den Schlüssel zu den Gebäuden.“

Folgendes irritiert mich:

Wir können in der Nicht-Höflichkeitsform zwischen Singular und Plural unterscheiden, deshalb gibt es ja den Plural. Ich finde es sehr merkwürdig, dass man in der Höflichkeitsform nicht zwischen Singular und Plural unterscheidet.

Wenn es den Plural in der Höflichkeitsform nicht braucht, wieso den Plural nicht auch in der Nicht-Höflichkeitsform abschaffen?

Weshalb hat man den Plural überhaupt eingeführt? Offenbar geht es auch ohne […]

Antwort

Guten Tag Herr W.,

die Höflichkeitsform ist im Deutschen tatsächlich für eine und für mehrere Personen identisch. Man verwendet in beiden Fällen die dritte Person Plural:

Haben Sie alles gefunden, was Sie brauchen?
Ich gebe Ihnen den Schlüssel zu den Gebäuden.

Was gemeint ist, ergibt sich in der Regel problemlos aus dem Kontext. Wenn dem nicht so ist, hilft in der gesprochenen Sprache meist ein Blick oder man ergänzt zum Beispiel in der folgenden Weise:

Ich gebe Ihnen, Frau M., den Schlüssel zu den Gebäuden.
Ich gebe Ihnen allen den Schlüssel zu den Gebäuden.

Das gleiche „Problem“ gibt es zum Beispiel auch im Französischen mit dem höflichen vous oder ganz allgemein im Englischen mit you. Auch dort ist ohne Kontext nicht erkennbar, ob man sich an eine oder an mehrere Personen richtet.

Zu Ihren Fragen: Man verwendet die Anredepronomen so, weil es sich im Verlauf der Sprachentwicklung so ergeben hat und es im Allgemeinen so funktioniert. Es liegt keine bewusste und „logisch“ begründete Entscheidung zu Grunde. Es ist ja auch nicht logisch, die dritte Person für die Höflichkeitsform zu verwenden. Man kann also nicht sagen, dass der Plural gezielt eingeführt wurde oder umgekehrt abgeschafft werden könnte.

Grob vereinfacht dargestellt sieht die Entwicklung der Höflichkeitsform im Deutschen wie folgt aus: Zuerst gab es als Anrede für eine Person nur du. Ab dem 9. Jahrhundert begann man die Pluralform ihr als höfliche Anrede für eine Person  zu verwenden. Später kam daneben die dritte Person Einzahl er bzw. sie auf, die eine größere Distanz zur angeredeten Person schafft. Noch später wurde diese Einzahl (unter dem Einfluss des Majestätsplurals) auch für nur eine Person langsam durch die Pluralform Sie ersetzt. Seit ca. dem 19. Jahrhundert sind nur noch du und Sie üblich. Letzteres, wie gesagt, für eine und für mehre Personen.

In anderen europäischen Sprachen gibt es andere „Lösungen“ für die höfliche Anrede. Zum Beispiel:

  • Französisch: vous, 2. Pers. Plur. für eine und mehrere Personen
  • Italienisch: Lei, 3. Pers. Sing. für eine Person; voi, 2. Person Plural für mehrere Personen
  • Spanisch: Usted + Verb in der 3. Pers. Sing. für eine Person; Ustedes + Verb in der 3. Pers. Plur. für mehrere Personen
  • Niederländisch: u + Verb in der 2. oder 3. Pers. Sing. für eine und für mehrere Personen

Von einem einheitlichen Prinzip kann hier also nicht die Rede sein – zumal für all diese Sprachen gilt, dass die richtige Verwendung der Höflichkeitsformen in verschiedenen Situationen noch ein bisschen komplizierter sein kann.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Muss hier ein Komma stehen: „der sich einfach und ohne zu kleben[,] ausrollen lässt“?

Frage

Ich lese folgenden Satz und frage mich, ob man hier das Komma nach „kleben“ vergessen hat:

Ein geschmeidiger Mürbeteig, der sich ganz einfach und ohne zu kleben ausrollen lässt.

Auf eine aufschlussreiche Antwort freue ich mich.

Antwort

Guten Tag Herr B.,

hier sollte tatsächlich ein Komma nach ohne zu kleben stehen:

Ein geschmeidiger Mürbeteig, der sich ganz einfach und ohne zu kleben, ausrollen lässt

Auch wenn dieses Komma leicht bis mittelschwer irritierend aussehen mag, muss es nach der Rechtschreibregelung gesetzt werden. In Abschnitt 2.4.2 steht dort:

Bilden Nebensätze und Wortgruppen eine Reihung, steht das Komma, wenn der Nebensatz auf den übergeordneten Satz trifft […]; das Komma steht nicht, wenn die Wortgruppe auf den übergeordneten Satz trifft […].

Was heißt das für den Satz, um den es hier geht?

• Die Wortgruppe ganz einfach und der infinite Nebensatz ohne zu kleben sind durch und zu einer Reihung verbunden.

• Der Infinitivsatz und der übergeordnete Satz treffen nach kleben aufeinander
→ Komma nach kleben

• Die Wortgruppe und der übergeordnete Satz treffen vor ganz zusammen
→ kein Komma vor ganz

Man behandelt den Infinitivsatz gleich wie einen „gewöhnlichen“ Nebensatz:

Ein geschmeidiger Mürbeteig, der sich ganz einfach und ohne zu kleben, ausrollen lässt
Ein geschmeidiger Mürbeteig, der sich ganz einfach und ohne dass er klebt, ausrollen lässt

Bei umgekehrter Reihenfolge von Wortgruppe und Infinitivsatz, sieht die Kommasetzung wie folgt aus. Der Infinitivsatz und der übergeordnete Satz treffen nach sich aufeinander:

Ein geschmeidiger Mürbeteit Mürbeteig, der sich, ohne zu kleben und auch sonst ganz einfach ausrollen lässt.

Hier noch ein Beispiel mit einer Reihung von Wortgruppe und Nebensatz:

Am Ende des Kurses beurteilen wir Ihren Text und wie er auf andere wirken könnte.
Ihren Text und wie er auf andere wirken könnte, beurteilen wir am Ende des Kurses.
Wir beurteilen ihren Text und wie er auf andere wirken könnte, am Ende des Kurses.

Diese Regel ist relativ einfach und nachvollziehbar, sie führt aber manchmal wie hier zu etwas seltsam anmutenden Kommasetzungen. Wer sich damit nicht anfreunden kann oder will, formuliert am besten um.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp