Heute arbeite ich zu Hause. Ich habe Aussicht auf das Gärtchen, das von so bescheidener Größe ist, dass ich es manchmal gerne und maßlos übertreibend „unsere Parkanlage“ nenne. An der Hauswand hängt ein Nistkasten, in dem sich dieses Jahr zum ersten Mal ein Kohlmeisenpärchen eingenistet hat. Die Jungen sind ausgeschlüpft und piepsen ununterbrochen, was die armen Eltern zu beinahe pausenloser Nahrungsanfuhr antreibt. In rasendem Tiefflug, der eigentlich manchen Jetpiloten vor Neid erblassen lassen müsste, fliegen sie hin und her. Ich wundere mich immer wieder, wie sie es schaffen, rechtzeitig zu bremsen, bevor sie in ihrem Vogelhäuschen verschwinden. Kurzum, ein schöner Anblick für den menschlichen Beobachter und ein fatales Ereignis für unzählige Räupchen und fliegende Insekten.
Was aber haben nun Kohlmeisen mit Kohl zu tun? Die Antwort lautet: gar nichts. Sie heißen wegen der schwarzen Farbe ihres Kopfes so. Ihr Name hat also etwas mit Kohle zu tun. Weshalb dachte ich dann aber doch erst an den Kohl statt an die Kohle?
Das hat damit zu tun, dass es nur ganz wenige Zusammensetzungen mit Kohle an erster Stelle gibt, die die Form Kohl- haben:
kohlschwarz, Kohlrabe, Kohlmeise
Alle anderen Zusammensetzungen haben die Form Kohle- oder Kohlen-. Zum Beispiel
Kohlebenzin, kohlehaltig, Kohle[n]hydrat, Kohle[n]industrie, Kohlenbergwerk, Kohlenheizung
Die meisten Zusammensetzungen mit Kohl- an erster Stelle haben etwas mit Kohl zu tun. Zum Beispiel:
Kohlgemüse, Kohlkopf, Kohlraupe, Kohlrübe, Kohlsuppe
Es gibt im Deutschen fast keine festen Regeln, wann bei der Wortzusammensetzung ein auslautendes e wegfällt und wann ein Fugenelement eingefügt wird. Es geschieht meistens in Übereinstimmung mit anderen Zusammensetzungen, die das gleiche Wort an erster Stelle haben. Das ist also der Grund, weshalb ich – und vielleicht auch Sie – bei der Kohlmeise zuerst ans Gemüse und dann erst an den Brennstoff dachte. So kann man also seinen Irrtum mit Hilfe der deutschen Wortbildungsprinzipien als zwar falsche, aber doch intelligente Folgerung tarnen. Man kann es wenigstens versuchen …
Hallo Dr. Bopp
Ich kenne zwar kohlrabenschwarz, so dass ich annehme dass Kohlrabe auch (einmal) verwendet wurde. Meiner Meinung nach ist dieser Vogel vor allem als Kolkrabe bekannt. Wobei mir die Herkunft des ersten Wortteils nicht klar ist. Ist Kolk- auch von Kohle abgeleitet ?
Kohlrabe ist tatsächlich ein anderer Name für den Kolkraben. Der erste Teil dieses Namens, Kolk-, soll aber lautmalerisch nach dem Ruf des Vogels gebildet worden sein. Leider bin ich vogelkundlich ziemlich unterbelichtet. Ich habe zwar die Kohlmeisen ohne ornithologische Hilfsmittel erkannt, aber inwieweit der Ruf eines Kolkraben etwas mit „kolk“ zu tun hat, weiß ich leider nicht zu sagen.