Dank einer Frage von Frau D. habe ich eine neue Verbalkonstruktion entdeckt! Damit meine ich nicht, dass ich deren Entdecker bin. Diese Ehre kommt wahrscheinlich dem Linguisten Casper de Groot zu (s. u.). Neu ist die Konstruktion nur insofern, als sie erst vor Kurzem beschrieben wurde und ich noch nie etwas über sie gelesen hatte. Es geht also nicht, wie Sie vielleicht vermuten könnten, um das Doppelperfekt (ich habe gesagt gehabt) oder das Doppelplusquamperfekt (ich hatte gesagt gehabt). Diese Formen sind ja fast so bekannt wie sie bei vielen verpönt sind. Nein, es geht um etwas anderes:
Frage
Schon seit vielen Jahren unterrichte ich Deutsch als Fremdsprache und heute hat mir eine Teilnehmerin eine Frage gestellt, auf die mir auch nach längerem Grübeln keine richtige Antwort einfiel. Was hat es mit der Form ich bin laufen gewesen auf sich? Wäre es ein Perfekt, müsste doch das Präsens logischerweise ich bin laufen heißen? Ist es vielleicht tatsächlich nur Umgangssprache und entbehrt einer grammatischen Grundlage? Mache ich einen Denkfehler?
Antwort
Sehr geehrte Frau D.,
der Satz Ich bin laufen gewesen steht im Perfekt. Im Präsens müsste die Form also tatsächlich heißen: Ich bin laufen. Im Präsens klingt der Satz aber recht ungewohnt. Weshalb? – Weil er in der ersten Person steht. Eine etwas ausführlichere Erklärung ist hier sicher angebracht:
Es handelt sich hier um eine Konstruktion, die aus dem Verb sein und einem Infinitiv besteht. Beispiele:
Präs: Wo ist er? – Er ist einkaufen.
Perf: Wo ist sie gewesen? – Sie ist schwimmen gewesen.
Prät: Wo waren sie? – Sie waren Fußball spielen.
Diese Konstruktion kann, vereinfacht gesagt, bei den gleichen Verben verwendet werden, bei denen auch die Konstruktion gehen+Infinitiv verwendet wird:
Er geht einkaufen – Er ist einkaufen.
Sie ist schwimmen gegangen – Sie ist schwimmen gewesen.
Sie gingen Fußball spielen – Sie waren Fußball spielen.
Die Konstruktion sein+Infinitiv wird Absentiv genannt (absent = abwesend). Das Subjekt der Verbhandlung ist nämlich abwesend (und man erwartet, dass die abwesende Person wieder zurückkehrt). Im Perfekt ist das auch in der ersten Person kein Problem:
Ich bin einkaufen gewesen.
Ich bin also abwesend gewesen, bevor ich diese sage. Im Präsens klingt die gleiche Wendung dann aber etwas ungewohnt.
Ich bin einkaufen.
Ich muss also abwesend sein, während ich dies sage. Der Satz klingt deshalb ohne jeden Kontext etwas sonderbar. Aus diesem Grund konnten Sie ich bin laufen auch nicht einordnen. In der heutigen Zeit ist aber dank moderner Kommunikationsmittel vieles möglich, auch ein Absentiv in der ersten Person im Präsens. Der Satz Ich bin einkaufen klingt als Antwort auf die Frage „Wo bist du?“ übers Handy ganz passabel. Während ich dies sage, bin ich im Normalfall für die Person am anderen Ende der Telefonverbindung abwesend. Hier sieht man, das technischer Fortschritt auch neue grammatische Möglichkeiten mit sich bringen kann.
Stilistisch ist diese Konstruktion eher der gesprochenen Umgangssprache zuzuordnen. Wie Sie sehen, entbehrt sie aber keineswegs einer grammatischen Grundlage. Sie hat sogar einen eigenen, richtig eindrücklich grammatisch klingenden Namen: Absentiv.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp
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de Groot, Casper. 2000. The absentive. In: Dahl, Östen (ed.) Tense and aspect in the languages of Europe. Berlin: Mouton de Gruyter. 641-667.
Der Absentiv Präsens findet heutzutage vermehrt Anwendung: als Handytiv – ich bin einkaufen 😉
der grammaticker
Diese Art von Ausdruck ist, was uns, Deutschlerner, manchmal im Hochdeutschen fehlt: Verlaufsform!!!
Ich bin Spanischsprecher und immer muss ich meine Ausdrücke \
Es handelt sich zwar um eine Art Verlaufsform, aber immer noch um eine ganz besondere Art der Verlaufsform. Beim Absentiv muss, wie der Name es sagt, das Subjekt der Verbhandlung abwesend sein. Dies ist bei der normalen Verlaufsform nicht unbedingt der Fall. Auch diese Form gibt es nur in der Umgangssprache:
Was machst du hier?
– Ich bin am Lesen (= Verlaufsform)
– Ich bin am Radiohören (= Verlaufsform)
– Ich bin am Einkaufen (= Verlaufsform)
Die obenstehenden Fragen und Antworten kann man direkt von Angesicht zu Angesicht formulieren.
Wo bist du?
– Ich bin einkaufen (= Absentiv)
– Ich bin schwimmen (= Absentiv)
Diese Antworten sind in der ich-Form nur übers Handy o.Ä. möglich.
Bei solchen Konstruktionen denk ich mir immer ein “gegangen” hinzu:
Ich bin laufen (gegangen) gewesen
Ich bin einkaufen (gegangen)
usw.
In der ich-Form sind sie übrigens häufig als Abwesenheitsnachrichten bei ICQ, MSN, usw. anzutreffen.
Das ist ja interessant. Eine vor kurzem beschriebene Form.
Ich habe etwas über den Absentiv im Buch “Kopulaverben und Kopulasätze” (Seite 253) nachgelesen (es gibt in Google bücher gibt es eine eingeschränkte Vorschau davon):
“In seinem Artikel „The absentive“ von 2000 bezeichnet de Goot Fügungen vom Typ Anna ist essen! als grammatische Kategorie des Absentivs. Der Absentiv zeichnet sich durch die folgenden Eigenschaften aus:
i. Morphosyntax
a) Es liegt das Verb sein sowie ein weiteres Handlungsverb vor, wobei das Subjekt in jedem Fall mit sein kongruiert.
b) Es dürfen nicht obligatorisch Elemente wie weg, (weg)gegangen und Ähnliches vorkommen, die auf lexikalischer Ebene Abwesenheit signalisieren.
ii. Semantik
a) Die im Subjekt kodierte Person X hat sich vom Ausgangsort als dem deiktischen Zentrum entfernt und ist abwesend, d. h. auch nicht in Sichtweite.
b) Grund der Abwesenheit von X ist eine im Handlungsverb kodierte Tätigkeit an einem anderen Ort.
c) Grundsätzlich wird angenommen, dass X nach einer der Tätigkeit angemessenen zeitlichen Abwesenheit wieder zurückkehrt.
d) Diese Tätigkeit wird von X regelmäßig durchgeführt (z. B. als Hobby).”