Gestern bin ich wieder einmal über die häufig geführte Diskussion gestolpert, ob man Schraubendreher oder Schraubenzieher sagen müsse. Die Verfechter der ausschließlichen Verwendung von Schraubendreher haben zwei Hauptargumente: 1) Mit diesem Werkzeug zieht man Schrauben nicht, man dreht sie. 2) Nach der Deutschen Industrienorm (DIN) gibt es seit einigen Jahrzehnten nur noch Schraubendreher. Ergo: Schraubenzieher ist falsch.
Das erste Argument ließe sich damit entkräften, dass die Erfinder und anfänglichen Verwender des Schraubenziehers – wie wir auch heute noch – diesen verwendeten um Schrauben an- oder festzuziehen. Deshalb nannten sie ihn auch Schraubenzieher. Doch eigentlich geht es mir vor allem um das zweite Argument.
Hier zeigt sich nämlich der Unterschied zwischen Fachsprache und Allgemeinsprache. Es ist allen klar, dass Kaffeefilter und Kopfschmerzen allgemeinsprachliche Wörter sind, während Hämofiltration und Enzephalitis vor allem in der Fachsprache verwendet werden. Bei solchen Begriffen kann es zu keinen linguistischen Grabenkriegen kommen. Anders sieht es bei fachsprachlichen Ausdrücken aus, die uns weniger fremd sind.
Irgendwann einmal in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurde beschlossen, dass es nach DIN nur noch Schraubendreher gebe. Seither wird in der Fachsprache zumindest offiziell nicht mehr von Schraubenziehern gesprochen. Das mag in fachlich-technischer Hinsicht sogar gerechtfertigt sein – ich bin ja nur ein „Sprachler“, der hin und wieder ein lockeres Schräubchen anziehen oder festdrehen muss. Diese fachsprachliche Festlegung des Begriffes heißt aber noch lange nicht, dass sich die Allgemeinsprache unbedingt danach zu richten hat und nun auch nur noch Schraubendreher sagen darf. Schraubenzieher ist ein gebräuchliches, allen verständliches, „natürlich“ entstandenes Wort, das bei sprachlichen Normalverbrauchern zu keinerlei Unfällen, stilistischen Unschönheiten oder anderen Problemen führt.
Ich sage hier mit so vielen Worten, dass die Allgemeinsprache sich nicht unbedingt nach fachsprachlichen Definitionen richten muss. Fachsprachliche Definitionen dienen dazu, die in einem Fachbereich notwendige Präzision bei der Formulierung zu ermöglichen. In der Allgemeinsprache ist diese Präzision in den meisten Fällen gar nicht notwendig. Es ist einem Normalsterblichen auch kaum möglich, sie immer und überall zu erreichen. Wussten Sie zum Beispiel das Folgende:
– Fachsprachlich gibt es keine Glühbirnen, nur Glühlampen. Weiter sind das, was man allgemeinsprachlich Lampen nennt, fachsprachlich Leuchten.
– Fachsprachlich zieren im Sommer nicht Geranien, sondern Pelargonien Fenster und Balkone. Geranium nennt die Fachsprache nämlich die Blume, die in der Allgemeinsprache Storchenschnabel heißt.
– Fachsprachlich sind Tomaten, Gurken, Zucchini, Auberginen und Paprikas Früchte, nicht Gemüse. Trotzdem findet man sie nirgendwo in der Obstabteilung.
– Fachsprachlich liegen Sie falsch, wenn Sie im Park von Enten, Gänsen und Schwänen sprechen. Sie müssten eigentlich von Enten, Echten Gänsen und Schwänen sprechen. Schwäne gehören nämlich zur Unterfamilie der Gänse, zu der übrigens die Pfeifgänse wieder nicht gehören.
– Fachsprachlich sind Spermien keine Samen, denn Samen sind bereits befruchtet und enthalten den Embryo einer Pflanze.
Fachsprachlich kann man nur Tote bergen. Verletzte müssen gerettet werden.
– In der rechtlichen Fachsprache können Sie der stolze Besitzer oder die stolze Besitzerin einer Sache sein, auch wenn diese nicht Ihr Eigentum ist. Das geht so weit, dass juristisch gesehen ein Dieb nach einem Diebstahl Ihr Eigentum in seinem Besitz hat. In der Allgemeinsprache werden die beiden Begriffe mehr oder weniger mit der gleichen Bedeutung verwendet.
– Holländisch ist nur eine Dialektgruppe des Niederländischen, wie auch Holland und Holländer nur einen Teil der Niederlande bzw. der Niederländer bezeichnen.
Die Liste ließe sich beliebig weiterführen. Sie soll hier aufzeigen, dass man sich als Kenner einer Fachsprache davor hüten sollte, der Allgemeinsprache seine Begriffe und Definitionen aufdrängen zu wollen. Niemand kennt alle Definitionen aller Begriffe in allen Fachsprachen. Das ist auch nicht notwendig, denn in der Alltagssprache versteht man sich ausgezeichnet, ohne immer den genau definierten, vorgeschriebenen Begriff zu verwenden. Deshalb sind fachsprachliche Definitionen keine Begründung und kein „Beweis“ dafür, dass ein allgemeinsprachlich übliches Wort falsch ist!
Wenn dem doch so wäre, wenn also Schraubenzieher falsch ist, weil die DIN Schraubendreher vorschreibt, dann
– schrauben Sie nur noch Leuchten, also keine Lampen, an die Decke;
– müssten wir eigentlich Tomaten und Zucchini beim Obst und nicht beim Gemüse suchen;
– sollten die Bibelübersetzungen dahingehend umgeschrieben werden, dass Onan nicht seinen Samen, sondern seine Spermien auf den Boden fallen lässt;
– bestimmen Sie vorher immer genau die rechtlichen Verhältnisse, bevor Sie vom Besitzer einer Wohnung oder von der Eigentümerin eines Fahrzeuges sprechen;
– behaupten Sie nur noch, dass die Niederländer eigentlich nicht Fußball spielen können und dass es für Automobilisten nichts Schlimmeres gibt, als einen Alpenpass hinter einem niederländischen Wohnwagen überqueren zu müssen, auch wenn solche Klischees mit Holländer und holländisch einfach besser klingen.
Danke für diesen wunderbaren Eintrag über ein Thema, das längst mal auf den Punkt gebracht werden musste. Ich habe das Gefühl, dass ich in Diskussionen noch oft darauf verweisen werde 😉