Unverwandt, verwandt und unabgewandt

Frage

Ich hätte eine Frage zu folgender Redewendung: „Jemanden unverwandt anschauen“. Ich rätsle zusammen mit meinem Freund, was der Wortursprung  von „unverwandt“ sein könnte, das heißt, wie man von „unabgewandt“ zu „unverwandt“ kommt.

Antwort

Sehr geehrte Frau M.,

wenn man jemanden oder etwas unverwandt anschaut, dann schaut man längere Zeit, ohne den Blick abzuwenden. Ihre Frage ist also berechtigt: Wieso heißt es unverwandt und nicht unabgewandt? – Das hat mit dem Verb verwenden, von dem unverwandt ja herkommt, und seinen früheren Bedeutungen zu tun.

Das Verb verwenden hatte früher unter anderem die Bedeutung abwenden, umwenden. Die Bedeutung unverwandt = ohne die Augen abzuwenden kommt von dieser Bedeutung des Verbs. Während sich die Bedeutung von verwenden auf benutzen, gebrauchen spezialisiert hat, ist bei unverwandt die Bedeutung unabgewandt erhalten geblieben. Man sagte also ursprünglich einfach buchstäblich, dass man jemanden anschaute, ohne sich (oder die Augen) abzuwenden.

Das ist aber wieder einmal nicht ganz alles. Ihre Frage hat nämlich bei mir die Frage aufgerufen, wie sich denn dieses unverwandt zu seinem scheinbaren Gegenteil verwandt verhält.

Das Wort verwandt hat die Bedeutung zur gleichen Familie gehörend. Das ist, wenn man es genauer betrachtet, nicht das Gegenteil von unabgewandt, sondern das Gegenteil von abgewandt: Wenn man miteinander verwandt ist, ist man im übertragenen Sinne einander vielmehr zugewandt als abgewandt. Die Wörter unverwandt und verwandt drücken also beide in gewissem Sinne das Gleiche aus: nicht abgewandt.

Auch das liegt am Verb verwenden und seiner früheren Bedeutung. Seine Grundbedeutung war nämlich, grob gesagt, bewegen, in eine Richtung wenden. Deshalb konnte man mit ihm nicht nur abwenden, sonder auch hinwenden, zuwenden ausdrücken. Das Adjektiv verwandt bedeutete also ursprünglich zugewandt, zugehörig. Es löste sich dann im Laufe der Zeit vom Verb und hat heute „nur“ noch die Bedeutung zur gleichen Familie gehörend.

Wieder einmal zeigt sich, dass man Sprachregeln nicht allzu stark verallgemeinern darf. Die Vorsilbe un- verneint in der Regel die Bedeutung des Adjektivs, vor dem sie steht: unabgewandt = nicht abgewandt, uninteressant = nicht interessant, unbeliebt = nicht beliebt. Das ist aber nicht immer der Fall: Bei zum Beispiel verwandt – unverwandt macht die Wortgeschichte den Liebhabern absoluter Regeln einen Strich durch die Rechnung. Echte Regelkenner und -kennerinnen tröstet sich dann aber mit der alten Weisheit, die besagt, dass die Ausnahme die Regel bestätigt.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Quellen: u. a. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (Einträge unverwandt, verwandt, verwenden)

Ein Gedanke zu „Unverwandt, verwandt und unabgewandt“

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