Tausendundeine Hyperbel

Man könnte es als eine Art Nachwehen des Urlaubs in der arabischen Welt deuten, dass ich zurzeit in Tausendundeiner Nacht lese. Ich kannte eigentlich nur Aladin, Ali Baba und Sindbad – also die von Kinderbuch, Film und Fernsehen bearbeiteten Erzählungen – und wollte einmal wissen, welche anderen Geschichten Scheherazade König Scheherban Nacht für Nacht erzählt, um ihren Kopf zu retten. Nicht alle Geschichten sind fesselnd, aber die meisten sind schön, interessant, poetisch und teilweise auch spannend.

Etwas fällt mir als heutigem, abendländischem Leser besonders auf: die Neigung zur Übertreibung. Die Helden und Heldinnen lieben, leiden und freuen sich nicht einfach nur so, nein, sie tun dies, indem sie Verse rezitieren, ausgiebigstens Tränen vergießen und dazwischen – ja, auch die Männer – immer wieder in Ohnmacht fallen. Diese Überschwänglichkeit gehört wohl zur morgenländischen Erzähltradition, aber wenn der Held auf zwei Seiten dreimal vor Liebesschmerz die Besinnung verliert, dann kann die Geschichte noch so herzzerreißend sein, ich muss doch lächeln.

Die Übertreibung, als Stilfigur in der Rhetorik Hyperbel genannt, gehört zu diesem Genre. In Tausendundeiner Nacht findet man wunderschöne Hyperbeln. Nehmen wir als Beispiel die Geschichte, die ich gestern und heute gelesen habe: „Geschichte des Hasan aus Baßrah und der Prinzessinnen von den Inseln Wak-Wak“*. Darin kommen die folgenden Passagen vor, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Zuerst die Beschreibung eines schönen Tals:

[…] und Bäche fließen dort, deren Wasser süßer als Honig und frischer als Schnee ist; es hat noch kein Aussätziger davon getrunken, ohne davon geheilt worden zu sein.

Dagegen kommt das frischeste Wasser der reinsten Alpenquelle nicht an und das teuerste Mineralwasser aus der „designtesten“ Flasche kann im Vergleich dazu nur schal schmecken.

So richtig schön wird es aber, wenn es um Verwünschungen geht. Stellen Sie sich vor, dass jemand Sie so richtig geärgert hat und Sie dieser Person dann die folgenden Worte entgegenschleudern dürfen:

Du Verruchter, du Feind Gottes […], du Hund, du Treuloser, du Übeltäter!

Nach einer solchen Schimpfkanonade muss der Ärger schon fast wieder vergessen sein! (Ich würde Ihnen trotzdem empfehlen, sich heutzutage und hierzulande gegenüber dem nächsten ärgerlichen Menschen etwas weniger „blumig“ auszudrücken.)

Den Höhepunkt in der Geschichte bildet diesbezüglich die Schilderung des Bösewichts. Falls Sie einmal eine vernichtende Beschreibung Ihres Erzfeindes benötigen, könnten Sie dieses Literaturzitat in Erwägung ziehen:

Ein Niederträchtiger, ein Widerspenstiger, Sohn eines Hundes und einer schlechten Mutter, Sohn eines bösen Abtrünnigen. Es ist an ihm kein Fleck so groß, daß eine Mücke sich draufsetzen könnte, worauf nicht irgendeine Schändlichkeit haftet!

Wie man sieht, kann man auch das Übertreiben zu einer höheren Kunst erheben! Ich möchte Ihnen deshalb – aber bestimmt nicht nur deshalb – empfehlen, auch einmal ein paar Geschichten aus Tausendundeiner Nacht zu lesen.

* Die Zitate stammen aus der Übersetzung von Dr. Gustav Weil aus dem Jahre 1865; in: Tausendundeine Nacht, vollständige Ausgabe, Dörfler Verlag, 2004.