Wenn man an einem Sonntagmorgen Radio hört, ist die Gefahr einer Ohrwurmattacke groß. Bei mir ist heute die Textzeile „Weine nicht, wenn der Regen fällt / dam, dam, dam, dam / Es gibt einen, der zu dir hält / dam, dam, dam, dam“ mit der dazugehörendem Melodie aus Drafi Deutschers Evergreen „Marmorstein Marmor, Stein und Eisen bricht“ in der Endlosschlaufe hängen geblieben. Ohrwürmer sind Melodien, die sich einem so einprägen, dass man sie stunden- und in hartnäckigen Fällen tagelang nicht mehr loswird. Das Bild ist relativ einfach: Wie ein Wurm bohrt sich eine Melodie ins Ohr und lässt einen dann nicht mehr in Ruhe.
Es gibt noch andere Ohrwürmer: die krabbelnden Tierchen mit dem schönen wissenschaftlichen Namen Dermaptera. Ihr deutscher Name ist eigentlich ein Doppelfehler. Es sind keine Würmer, sondern Insekten, und sie interessieren sich nicht sonderlich für Ohren. Man glaubte früher, dass Ohrwürmer in die Ohren Schlafender kriechen und sich mit ihren Zangen einen Weg durchs Trommelfeld zum Hirn bahnen, um dort Blut zu saugen oder – eine noch unangenehmere Vorstellung – ihre Eier abzulegen. Da sich Ohrwürmer wie andere kleinere Tierchen gerne in Ritzen und Spalten verstecken, ist es im Laufe der Menschheitsgeschichte sicher mehr als einmal vorgekommen, dass sich ein Ohrwurm in ein Ohr verirrt hat, aber sehr weit kann ein solches Tierchen mit seinen schwachen Zangen dort nicht vordringen.
Ohrwürmer wurden lange Zeit auch als Mittel gegen Taubheit verwendet. Eines dieser Rezepte schrieb vor, zu diesem Zweck in Hasenurin aufgelöste pulversierte Ohrwürmer zu sich zu nehmen …
Solche Überlieferungen waren nicht nur unter den Deutschsprachigen verbreitet. Auf Englischen heißt der Ohrwurm earwig (Ohr + ein altes Wort für Insekt), auf Französisch perce-oreille (Ohrenbohrer), auf Niederländisch oorworm oder oorwurm (…) und der wissenschaftliche Name des Gemeinen Ohrwurms lautet Forficula auricularia (Ohrenzänglein).
Inzwischen bin ich den musikalischen Ohrwurm leider noch nicht losgeworden: „Nimm den goldenen Ring von mir / dam, dam, dam, dam / Bist du traurig, dann sagt er dir / dam, dam, dam, dam …“ Falls ich sie nun angesteckt habe, tut mir das sehr leid. Und für alle, die diesen Ohrwurm noch nicht kennen, gibt es Youtube.
Apropos – bevor die Frage danach kommt, ob “Marmor, Stein und Eisen” (so die Originalschreibweise) nicht eigentlich “brechen” müssten, wie wäre es mit einem kleinen Exkurs zum Singularis materialis?
Viele Grüße,
Burkhard Vogel
Das Phänomen des Singularis materialis beschreibt eigentlich Wikipedia schon ganz nett: http://de.wikipedia.org/wiki/Singularis_materialis.
Die Frage lautet nun, ob der Textschreiber tatsächlich bewusst diese Stilfigur verwendet hat oder die allgemeinsprachlich übliche Formulierung aus Gründen des Rhythmus und des Reims nicht respektiert hat. Die Textzeilen sollten ja zum Rhythmus der Musik passen und sich auch noch reimen. Manche sind zu vielem bereit, um dies zu erreichen. Wir müssen allerdings gar nicht wissen, ob es eine bewusste Wahl oder eher verstechnische Gewaltanwendung war, denn das eine braucht ja das andere nicht auszuschließen. Was zählt, ist das Resultat.
Für “Marmorstein und Eisen” statt “Marmor, Stein und Eisen” bitte ich den Liedtexter Günter Loose und die Leserschaft um Verzeihung. Der Titel hat sich in dieser Form in meinem Kopf festgesetzt, seit ich das Lied zum ersten Mal gehört habe. So etwas kriegt man beinah nicht mehr weg.