„Riefend gibt es nicht!“, lautet der Kommentar von Lollo, der oder die vielleicht den ebenso fiktiven Familiennamen Rosso trägt und des Weiteren leider eine falschen E-Mail-Adresse angegeben hat. Diese Behauptung möchte ich nicht gänzlich unwidersprochen lassen, zumal das Wort riefend tatsächlich im Canoonet-Wörterbuch zu finden ist.
Man findet riefend natürlich nicht bei den Wortformen des Verbs rufen. Es gibt im Deutschen schließlich nur das Partizip Präsens rufend und das Partizip Perfekt gerufen. Wenn es zu rufen gehören würde, müsste riefend aber eine Art Partizip Präteritum sein:
Er rennt aus vollem Halse rufend auf uns zu.
Er rannte aus vollem Halse *riefend auf uns zu.
Die Narren ziehen singend und tanzend durch die Straßen.
Die Narren zogen *sangend und *tanztend durch die Straßen.
Partizipformen dieser Art (*) gibt es nicht. Trotz seines Namens Partizip Präsens kann dieses Partizip nämlich nicht nur im Präsens verwendet werden. Es drückt keine Zeit aus. Es drückt aus, dass die Verbhandlung verlaufend ist, und wird manchmal wie oben adverbial oder meistens als Adjektiv verwendet (z. B. rufende Eulen, singende Lerchen, tanzende Schwäne). Es kann sowohl in Kombination mit der Gegenwart als auch zusammen mit der Vergangenheit stehen:
Er rennt/rannte aus vollem Halse rufend auf uns zu.
Die Narren ziehen/zogen singend und tanzend durch die Straßen.
Heute wird deshalb häufig der weniger irreführende Name Partizip I verwendet.
Die Wortform riefend kann also nicht zu rufen gehören, genauso wenig wie sangend eine Form von singen oder tanztend eine Form von tanzen ist. Weshalb steht riefend trotzdem im Wörterbuch? – Es gehört ganz regelmäßig zum Verb riefen, das wie seine Variante riefeln die Bedeutung mit Riefen (= Rillen) versehen hat.
Das Wort riefend ist alles andere als ein Anwärter auf eine Spitzenposition in der Liste der am häufigsten verwendeten Wortformen. Manchmal ist es sogar nur ein triefend oder reifend mit Flüchtigkeitsfehler. Man darf ihm aber trotzdem nicht einfach mit der Behauptung „Riefend gibt es nicht!“ die Daseinsberechtigung absprechen. Auch wenn dies wahrscheinlich außer Scrabble-Spielern, die die entsprechenden Buchstaben legen können, kaum jemanden interessiert: Riefend gibt es!
Irgendwas sagt mir, dass die zwei oberen Beispiele nicht zufällig gewählt wurden. =)