Eine Iranerin, die Deutsch studiert hat, beschäftigt sich mit einem älteren deutschen Text und kommt beim Wort loszählen nicht mehr weiter. Hätten Sie auf Anhieb gewusst, was dieses Verb im unten zitierten Text bedeutet? Gemeint ist jedenfalls nicht anfangen zu zählen …
Frage
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir sagen, ob in dem unten stehen Satz los zum Verb zählen gehört. Ich möchte auch gerne wissen, ob ihrer Bürgerschaft Genitiv ist und ob des Friedens Geiseln Genitiv zu ihrer Bürgschaft ist.
Der Krieg zählt ihrer Bürgschaft los des Friedens Geiseln*
[Franz Grillparzer, Weh dem der lügt, 1. Akt]
Antwort
Sehr geehrte Frau S.,
Grillparzers Lustspiel Weh dem der lügt ist ein Text, der auch für „unvorbereitete“ Muttersprachige nicht immer leicht verständlich ist.
Der Krieg zählt ihrer Bürgschaft los des Friedens Geiseln*
Das Nachdenken beginnt hier beim Verb loszählen, das heute nicht mehr gebräuchlich ist (auch ledig zählen, vgl. Grimm, zählen, Bedeutung 5). Seine Bedeutung ist jemanden von etwas lösen, befreien. Zum Beispiel:
Gefangene wurden, wenn sie Glück hatten, losgezählt („seines gefengnus loszzuzcelen „)
Jemand konnte mit den Worten „du bist hiermit losgezehlet, und die sache ist dir vergeben“ von einem Bann befreit werden.
Es war einer Frau nicht erlaubt, sich „anderweit“ zu verloben, „ehe sie von ihrem ersten breutgam … ordentlicher weyse loßgezehlet“.
Manchmal konnten auch Dinge losgezählt werden: „eigenhändige privattestamente sind von allen förmlichkeiten losgezählt“
(Beispiele aus dem Deutschen Rechtswörterbuch, Stichwort loszählen)
Wie die Beispiele zeigen wurde loszählen meist mit von verbunden. Man konnte aber auch einer Sache losgezählt werden. Grillparzer verwendet die Konstruktion mit dem Genitiv:
Der Kriegt zählt sie ihrer Bürgschaft los.
Es steht noch ein weiterer Genitiv in diesem Satz: des Friedens. Es handelt sich dabei um ein Genitivattribut, das dem Bezugswort Geiseln vorangestellt ist:
des Friedens Geiseln = die Geiseln des Friedens
In modernerem Deutsch und ohne das Versmaß zu beachten lassen sich Grillparzers Worte ungefähr so umschreiben:
Der Krieg befreit die Geiseln des Friedens aus ihrer Bürgschaft.
Gemeint ist – wenn ich es richtig verstehe –, dass zu Friedenszeiten gestellte Geiseln freigelassen werden müssen, wenn der Krieg ausbricht. Dies wurde so kunstvoll mit zwei Genitiven und einem inzwischen veralteten Verb in Jamben gegossen, dass man sich heute gut konzentrieren muss, wenn man den Satz verstehen will.
Diese Art zu formulieren gehörte auch zu Grillparzers Zeiten nicht dem alltagsprachlichen Repertoire an. So sprach wohl niemand. Sie zeigt aber trotzdem, dass die deutsche Sprache sich seit 1840 sehr verändert hat. Auch in einem sehr literarisch gemeinten Text würde man heute eine solche Formulierung nicht mehr antreffen. Es ist also kaum erstaunlich, dass ein Text wie dieser Ihnen Schwierigkeiten bereitet.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp
*Kontext: Bischof Gregors Neffe Atalus wurde als Geisel gestellt, um Frieden zu schließen. Nun ist doch wieder Krieg ausgebrochen und Gregor spricht mit der Küchenhilfe Leon über Atalus’ Flucht oder Befreiung:
Leon:
Hm, das begreift sich. – Doch wenn Atalus
Ersäh’ den Vorteil, seiner Haft entspränge?
Gregor:
Er möcht’ es ohne Sünde, denn der Krieg
Zählt ihrer Bürgschaft los des Friedens Geiseln,
Und nur mit Unrecht hält man ihn zurück.
[Franz Grillparzer, Weh dem der lügt, 1840, 1. Akt]