Sind Sie schon einmal zur Kuh in der Weide degradiert worden. Uns ist das diesen Sommer passiert. Das Verb degradieren ist übrigens nicht allzu negativ zu verstehen – ich möche hier ja nicht den Kühen zu nahe treten. Ich meine damit nur, dass unser Gefährlichkeitsgrad auf denjenigen einer Kuh in der Weide zurückgestuft wurde. Und das durch eine Amselfamilie!
In den Koniferen beim Ferienhäuschen brütet jedes Jahr ein Amselpaar. Der Rest des Gartens dient als Jagdgebiet, in dem Würmer, Raupen, Käfer, Mücken, Fliegen und andere Schnabelfreuden erbeutet werden. Inzwischen hat der zweite Amselnachwuchs dieses Jahres das Pubertätsalter erreicht. Das heißt, sie hüpfen selbstständig im Garten herum, picken in alles, was auch nur im Entferntesten essbar sein könnte, und fordern laut piepsend und flügelflatternd jeden Wurm für sich ein, den Vater oder Mutter Amsel gefunden hat. Kurzum, man tut, als sei man schon groß, lässt sich aber noch von den Eltern durchfüttern.
Nun kommen wir zur „Degradation“: Die Amseleltern haben sich an unsere Anwesenheit im Garten gewöhnt. Sie ziehen sich nicht gleich zurück, wenn wir das Häuschen verlassen, halten aber immer einen Sicherheitsabstand von mindestens vier bis fünf Metern ein. Wenn man auf sie zugeht, fliegen sie gleich weg. Sie verhalten sich also, wie sich das für Amseln im Umgang mit Menschen gehört: Sie zeigen Respekt vor unserer potenziellen Gefährlichkeit. Nicht so der Nachwuchs! Wir waren schon ihr ganzes kurzes Leben immer da und niemals gefährlich. Wir sind einfach Teil ihrer natürlichen Umgebung. Sie beachten uns kaum und hüpfen bis zu einem Meter Abstand vor unseren Füßen herum. Wenn man auf sie zugeht und wirklich keine Anstalten macht, einen Bogen um sie herum zu machen, räumen sie mit zwei, drei müden Hüpfern und einem überdeutlichen Mangeln an Begeisterung die Durchgangsroute. Sie verhalten sich uns gegenüber wie Vögel sich im Allgemeinen auf einer Weide gegenüber Kühen verhalten. Mir gefällt das!
Sprachliche Äußerungen erhalten ihre Bedeutung zu einem großen Teil durch den Zusammenhang, in dem sie stehen. Auch anfänglich absurd klingende Aussagen können ganz plausibel sein, wenn man den Kontext herbeizieht – auch dann, wenn jemand schreibt, er sei zur Kuh degradiert worden.
Auf einer „Ungefährlichkeits-“ oder „Vertrauenswürdigkeits-Skala“ wäre es wohl auch eher eine Beförderung als eine Herabstufung durch die Jungamseln.
Wenn etwas auf der Skala der X-heit sinkt, steigt es auf der Skala der Un-x-heit. Auf der Skala der Genießbarkeit steht der Knollenblätterpilz weit unter dem Steinpilz, auf der Skala der Ungenießbarkeit aber weit über diesem. Diese Umkehrbarkeit erklärt auch ein bisschen, weshalb mir die „Degradierung“ zur Kuh gefällt: Es ist schön zu sehen, dass die Jungamseln so viel Vertrauen haben (oder als Vertrauen ausgelegte Gleichgültigkeit …).
… einem überdeutlichen Mangel (!) an Begeisterung…
Bitte entschuldigen Sie, ich konnte einfach nicht wiederstehen.
Toller Blog übrigens, stöbere immer gerne hin und wieder darin herum!
Danke fürs Lob und den Hinweis auf das deutlich überflüssige n.
Lieber Besserwisser, das ist für Dich:
standhalten; nicht nachgeben: dem Gegner, einem feindlichen Angriff widerstehen; das Material widerstand allen Belastungen; er widerstand allen Versuchungen; sie konnte ihm, seinem Verlangen nicht widerstehen; sie verbreitete einen Optimismus, dem niemand widerstehen konnte; wer hätte da widerstehen können? (Duden Band 2)
Bitte entschuldige, ich konnte einfach nicht widerstehen.
Ein schöner Blogeintrag, Herr Dr. Bopp.
Er gefällt mir.