Frage
Neulich hörte ich am Radio den folgenden Satz: „Grass kann die Kritik an sich nicht nachvollziehen.“ Gemeint ist die Kritik an seiner Person. M. E. sollte es heißen: „Grass kann die Kritik an ihm nicht nachvollziehen.“ […] Wie ist Ihre Meinung dazu?
Antwort
Sehr geehrter Herr H.,
ob der Inhalt stimmt, kann ich nicht beurteilen, aber grammatisch ist der Satz richtig formuliert:
Grass kann die Kritik an sich nicht nachvollziehen.
Das Reflexivpronomen bezieht sich im Allgemeinen auf das Subjekt des Satzes. Das Subjekt, auf das sich hier Bezug nimmt, ist Grass.
Ihr Zweifel ist aber verständlich, denn ganz so einfach ist die Lage nicht. Bei Attributen, die mit einer Präposition (hier an) eingeleitet werden, kommt es häufig vor, dass auch das Personalpronomen gerechtfertigt sein könnte. Bei Ihrem Satz gilt zum Beispiel, dass das eigentliche Subjekt, das die Kritik ausübt, nicht Grass, sondern eine andere Person ist. Nennen wir sie einfach einmal Müller:
Müller kritisiert Grass → Müllers Kritik an Grass → Müllers Kritik an ihm
Trotzdem steht in solchen Sätzen mit einem Präpositionalattribut normalerweise das Reflexivpronomen:
Grass kann die Kritik an sich nicht nachvollziehen (statt: an ihm).
Gaby erträgt den Rummel um sich herum mit aller Gelassenheit und döst (statt: um sie herum).
Sie sahen sich alte Filmaufnahmen von sich an (statt: von ihnen).
Und jetzt wird es so richtig schön kompliziert: Das Reflexivpronomen sich kann sich nämlich auch auf ein Genitivattribut statt auf das Subjekt beziehen:
Alines Unzufriedenheit mit sich selbst war spürbar.
Schweinsteigers Kritik an sich und den Bayern kam nicht ganz unerwartet.
Müllers Kritik an sich = Müllers Selbstkritik
Wenn nun ein Genitivattribut und ein Präpositionalattribut zusammentreffen, kann sich sowohl auf das Subjekt als auch auf das Genitivattribut bezogen werden:
Grass kann Müllers Kritik an sich nicht nachvollziehen.
= Müllers Selbstkritik oder Müllers Kritik an Grass?
Wenn Müllers Kritik an Grass gemeint ist, wird oft auf das Personalpronomen ausgewichen:
Grass kann Müllers Kritik an ihm nicht nachvollziehen.
Ganz eindeutig ist der Satz aber auch dann noch nicht, denn es könnte auch Müllers Kritik an einer weiteren männlichen Person gemeint sein. Wenn der Satzzusammenhang nicht verdeutlicht, welche Bedeutung genau gemeint ist, formuliert man deshalb in solchen Fällen am besten um.
Das Reflexivpronomen sich bezieht sich im Prinzip auf das Subjekt des Satzes oder Teilsatzes, in dem es steht. Das ist aber offensichtlich nicht ganz immer so. Manchmal entstehen dadurch wie hier Unklarheiten. Zum Glück riskiert man aber bei der Verwendung von sich nur selten, sich in möglichen und unmöglichen Bezugsfäden zu verstricken. Meistens folgt es brav der Grundregel.
Mehr zum Bezug der Reflexivpronomen finden Sie auf dieser Seite.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp
Mir scheint, neben dem diskutierten Personenbezug des Ausdrucks “an sich” scheint, könnte diese Wendung auch eine ungleich banalere Bedeutung haben … – na gut, vielleicht nicht, wenn man die Sprachgewandtheit eines G. Grass auch bei dem Autor des Satzes unterstellt.
Ich meine die eher landläufig-umgangssprachlich Bedeutung des “an sich” im Sinne von “als solche” – siehe http://de.wikipedia.org/wiki/An_sich
Was halten Sie von diesem Erklärungsversuch?
Gruß aus dem Ruhrgebiet
Jürgen F.
Wenn man den Satz isoliert betrachtet, könnte mit die Kritik an sich tatsächlich auch gemeint sein: die Kritik als solche, die Kritik in ihrem Wesen. Das wäre auch standardsprachlich vertretbar. Es gibt sogar noch eine weitere Interpretationsmöglichkeit: etwas an sich nicht nachvollziehen können im Sinne von etwas im Grunde genommen nicht nachvollziehen können.
Hier zeigt sich das Problem der Betrachtung isolierter Sätze. Sie sind oft mehrdeutig. Eindeutig werden sie meistens durch den Kontext. Deshalb gibt Herr H. in seiner Frage ganz zu Recht ausdrücklich an, was in der Radiosendung mit die Kritik an sich gemeint war: die Kritik an Grass. Die weniger praktische Alternative wäre gewesen, in der Frage auch den ganzen Kontext zu zitieren.