Warnung: Es folgt trockener Stoff. Er könnte diejenigen Interessieren, die sich wie Herr F. wundern, warum man „offiziell“ das Sich-sehr-Wundern und die sich sehr Wundernden schreibt.
Frage
[…] Immer noch unsicher bin ich in folgendem Fall:
Das Sich-Weiterbilden/Sichweiterbilden ist heute sehr wichtig.
Das Angebot richtet sich an Sich-Weiterbildende/Sichweiterbildende/sich Weiterbildende.
Irgendwie wird mir nicht klar, ob und wenn ja warum sich die Schreibung von substantivierten Infinitivgruppen von derjenigen substantivierter Partzipgruppen (erweitert oder nicht) unterschiedet:
das Sich-Verändern – das Sich-schnell-Verändern
ABER
das sich schnell Verändernde – das sich schnell Verändernde
Antwort
Sehr geehrter Herr F.,
Sie sind nicht der Einzige, der sich wundert – oder stilistisch unschön, aber zur Frage passend: Sie sind nicht der einzige sich Wundernde. Bei einer als Substantiv verwendeten Infinitivgruppen gilt (Regel):
zwei Elemente → Zusammenschreibung
mehr als zwei Elemente → Schreibung mit Bindestrichen
Also:
sich verändern → das Sichverändern
sich schnell verändern → das Sich-schnell-Verändern
Deutlich anders sieht die Schreibung bei einer substantivierten Partizipgruppe aus:
sich verändernd → das sich Verändernde
sich schnell verändernd → das sich schnell Verändernde
Die einfache Antwort auf die Frage nach der unterschiedlichen Schreibung von substantivierten Infinitivgruppen und substantivierten Partizipgruppen lautet: Weil es so in der amtlichen Rechtschreibregelung steht. Das ist aber eine wenig befriedigende Auskunft.
Eine etwas ausführlichere Begründung könnte die folgende sein: Der Hauptunterschied liegt in der Veränderung der syntaktischen Rolle der Wortgruppe, die bei der Substantivierung auftreten kann. Das klingt recht kompliziert – und sehr einfach ist es tatsächlich nicht. Im Einzelnen gilt:
Bei der Substantivierung einer Infinitivgruppe wird eine verbale Gruppe zu einer nominalen Gruppe. Die ganze Wortgruppe erhält im Satz eine andere Funktion. Entsprechend wird die ganze Gruppe in der Rechtschreibung als Substantiv gekennzeichnet. Dies geschieht durch Großschreibung sowie Zusammenschreibung oder Schreibung mit Bindestrichen.
Verbgruppe wird Nomengruppe:
sich schnell verändern → das Sich-schnell-Verändern
Bei der Substantivierung einer Partizipgruppe wird im Prinzip einfach der Kern einer nominalen Gruppe verschoben. Der (gedachte) substantivische Kern fällt weg und das adjektivisch verwendete Partizip übernimmt die Rolle des Wortgruppenkerns. Die Gruppe hat im Satz immer noch die gleiche Funktion. Orthografisch wird nur der verschobene Kern gekennzeichnet, und zwar durch Großschreibung:
Nomengruppe bleibt Nomengruppe:
das sich schnell verändernde Etwas → das sich schnell Verändernde
Es folgen ein paar Beispiele:
sich weiterbilden müssen
→ die Verpflichtung des Sichweiterbildens
die Wünsche der sich weiterbildenden Menschen
→ die Wünsche der sich Weiterbildenden
Er möchte Rad fahren.
→ Sein Wunsch ist das Radfahren.
Die Rad fahrenden o. radfahrenden Leute leben gesund.
→ Die Rad Fahrenden o. Radfahrenden leben gesund.
den Text sehr klein drucken
→ das Sehr-klein-Drucken des Textes
das sehr klein gedruckte Etwas
→ das sehr klein GedruckteMan kann sich sehr über die Rechschreibung wundern.
→ Die Rechtschreibung gibt Anlass zum Sich-sehr-Wundern.
Sie sind nicht der einzige sich sehr wundernde Mensch.
→ Sie sind nicht der einzige sich sehr Wundernde.
Die hier beschriebenen Unterschiede bedingen nicht logisch zwingend, dass in dieser Weise unterschiedlich geschrieben werden muss. Es ist aber in der deutschen Rechtschreibung so üblich. Gerne würde ich es einfacher machen, ich weiß aber leider nicht wie. Nur dies: Oft lohnt es sich, substantivierte Infinitivgruppen und Partizipgruppen zu vermeiden. Man umgeht dann nicht nur diese Rechtschreibfrage, sondern formuliert in vielen Fällen auch stilistisch besser. Die letzten Beispielsätze zeigen es deutlich!
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp
Wie sieht es aus mit Bildungen wie “Die sparen wollen, kommen zu uns” – also “die, die sparen wollen”, nur ohne das erste “die”. Was ist die grammatische Begründung für solche Weglassungen?
Solche Sätze werden freie Relativsätze oder kopflose Relativsätze genannt. Es sind Relativsätze, die im übergeordneten Satz kein Bezugswort haben. Sie werden meist mit w-Wörtern eingeleitet, seltener mit der/die/das:
Eine grammatische „Begründung“ für die Existenz freier Relativsätze muss ich Ihnen schuldig bleiben. Man kann im Deutschen so formulieren.
Vielen Dank!