Heute wieder einmal etwas aus den „Randbezirken“ der Grammatik:
Frage
In seiner Übersetzung des Evangeliums nach Markus (Kapitel 8, Verse 27 und 29) lässt Martin Luther Jesus folgende Fragen an seine Jünger richten: „Wer sagen die Leute, dass ich sei? […] Ihr aber, wer sagt ihr, dass ich sei?“ Ich frage mich, was das in grammatischer Hinsicht ist. Was sagen Sie, dass derartige Fragen in grammatischer Hinsicht sind? […]
Antwort
Sehr geehrte Frau G.,
es handelt sich hier um ein eher spärlich beschriebenes Phänomen der deutschen Sprache. Das liegt wohl daran, dass es ziemlich komplex ist, aber auch daran, dass diese Konstruktion je nach Verb sehr unterschiedlich bewertet wird. Nicht alle finden solche Konstruktionen standardsprachlich korrekt.
Es handelt sich um eine Gruppe von Verben, manchmal „Brückenverben“ genannt, bei denen ein zum Nebensatz (o. zur Infinitivkonstruktion) gehörender Teil im übergeordneten Satz steht. Zu diesen Verben gehören Verben des Denkens und Sagens (sagen, behaupten, glauben, meinen, denken) aber auch versuchen.
Wer bin ich?
Wer, glaubst du, bin ich.
Wer glaubst du, dass ich bin.
Sie sagen, dass ich X sei.
Wer, sagen sie, sei ich?
Wer sagen sie, dass ich sei?
Ich habe ihr den Wagen verkauft.
Wem, sagst du, hast du den Wagen verkauft?
Wem sagst du, dass du den Wagen verkauft hast?Er fährt nach Basel.
Wohin, denkst du, fährt er?
Wohin denkst du, dass er fährt?
Hier wird eine komplizierte Struktur mit doppelter Inversion (glaubst du, bin ich) mittels eines dass-Satzes aufgelöst (nach dem Muster: Ich denke/glaube/sage, dass …). Dabei entsteht ein Fragesatz, in dem nicht ein Satzteil des Hauptsatzes erfragt wird, sondern ein zum Nebensatz gehörender Satzteil. Der erfragte Satzteil wird dabei aus dem Nebensatz nach links in den Hauptsatz verschoben. So ist das Fragwort wohin im letzten Beispiel nicht von denken abhängig (nicht: wohin denken?) sondern von fahren (wohin fahren?)
Der dass-Satz ist ein Objektsatz, das heißt, er hat im Gesamtsatz die Funktion eines Akkusativobjekts. Das Besondere daran ist aber, dass ein Teil dieses Objektsatzes als Fragewort im übergeordneten Satz steht.
Bei versuchen kann etwas ganz Ähnliches geschehen:
Ich versuche, ihr meinen Wagen zu verkaufen.
Wem versuchst du deinen Wagen zu verkaufen?
Welchen Wagen versuchst du ihr zu verkaufen?
Hier wird nach einem Satzteil gefragt, der zur Infinitivkonstruktion gehört. Dabei wird das Erfragte auch hier aus der Infinitivkonstruktion gelöst und in den übergeordneten Satz verschoben: Wem resp. Welchen Wagen ist nicht von versuchen, sondern von verkaufen abhängig.
Diese Verschiebung eines Satzteils aus dem untergeordneten Satz in den übergeordneten Satz ist nur bei einer kleinen Gruppe von Verben möglich. Weiter halten nicht alle überall solche Formulierungen für standardsprachlich wirklich korrekt. Es gäbe auch sonst noch viel zu erläutern und zu präzisieren. Ich finde es aber auch so schon erstaunlich, wie sich bei genauerer Analyse erweisen kann, dass augenscheinlich recht gewöhnliche Sätze eine sehr ungewöhnliche Struktur haben. Doch wen glaube ich damit beeindrucken zu können?
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp
Mir fällt dabei noch eine weitere Version ein, die ich immer wieder höre. Ich meine damit Sätze wie die folgenden:
“Was glaubst du, wer ich bin?”
“Was sagst du, wem du den Wagen verkauft hast?”
“Was denkst du, wohin er fährt?”
Wie verhält es sich mit solchen Sätzen?
Den Satz “Wem sagst du, dass du den Wagen verkauft hast?” kann man übrigens auch anders verstehen. Damit kann nach meinem Verständnis auch die Frage nach den Personen gemeint sein, denen der angesprochene vom Verkauf des Wagens erzählen will. (Wenn ich nur diesen Satz höre oder lese, dann kommt mir die andere Bedeutung eigentlich gar nicht in den Sinn …)
Fragen des Typs „Was glaubst du, wer ich bin?“ kommen tatsächlich auch häufig vor. Ihr Entstehen könnte ungefähr so beschrieben werden:
Dann wird die direkte Frage noch durch eine indirekte Frage ersetzt:
Diese Konstruktion ist nicht falsch, sie ist aber eher der gesprochenen Umgangssprache zuzurechnen. Standadsprachlich wird besser zum Beispiel so formuliert:
Zur zweiten Bemerkung: Ohne Kontext bedeutet der folgende Satz tatsächlich etwas anderes:
Das liegt daran, dass der Satz zuerst als ganz normale Kontruktion interpretiert wird, bei der die einzelnen Satzglieder (wie sich das „gehört“) vom Verb desjenigen Teilsatzes abhängig sind, in dem sie stehen. Ohne Kontext wird wem also direkt von sagen abhängig gemacht. Daraus entsteht ein korrekter, verständlicher Satz. Es ist also nicht nötig, kompliziertere Strukturen auszuprobieren. Wenn ein anderer Bezug hergestellt werden soll, kann dies deshalb nur der Kontext zeigen.
Wenn aber die Zuordung der Satzteile zueinander innerhalb der einzelnen Teilsätze nicht möglich ist, wird die kompliziertere Struktur auch ohne Kontext sofort erkannt:
Da wohin nicht direkt vom Verb sagen abhängig sein kann, ist auch ohne Kontext klar, dass wohin auf fahren bezogen werden muss.
Wie verhält es sich mit dem Satz: Ihr wollt bezahlen und ihr habt kein Geld.
Der Satz ist korrekt. Üblicherweise lässt man hier aber das zweite ihr weg:
(Es ist mir allerdings nicht klar, was dieser Satz mit dem Thema des Blogartikels zu tun hat.)