Viel zu tun und viel zu erzählen haben

Frage

Der Satz „Ich habe etwas zu erledigen“ bedeutet, dass ich etwas erledigen muss. Der Satz „Ich habe etwas zu erzählen“ bedeutet, dass ich etwas erzählen kann. […] Die Satzkonstruktion ist gleich, aber der Sinn verschieden. Wieso ist das so?

Antwort

Sehr geehrter Herr P.,

die Wendung zu+Infintiv+haben hat oft die Funktion eines Modalverbs. Mit welchem Modalverb sie ausgedrückt werden kann, ist tatsächlich nicht so klar. Sie kann eine Notwendigkeit ausdrücken:

Ich habe noch viel zu tun = Ich muss noch viel tun.

Sie kann aber auch eine Möglichkeit ausdrücken:

Wer viel reist, hat viel zu erzählen = Wer viel reist, kann viel erzählen.

Mit etwas zu _en haben wird also gesagt: etwas _en müssen oder etwas _en können. Eine weitere Bedeutung hat die Wendung, wenn sie verneint ist:

Sie haben nicht viel zu tun = Sie müssen nicht viel tun.
Sie haben nichts zu erzählen = Sie können nichts erzählen.
Sie haben sich hier nicht zu äußern = Sie dürfen sich hier nicht äußern.

Siehe auch hier.

Ob mit der Formulierung Notwendigkeit oder Möglichkeit ausgedrückt wird, ergibt sich erst aus dem Kontext. Es ist ihr nicht von vornherein eine genaue Bedeutung zuzuordnen. Damit ist diese Formulierung tatsächlich nicht so einfach für Deutschlernende. Ähnliches gibt es aber nicht nur im Deutschen. Zum Beispiel:

de: Ich habe viel zu tun.
nl: Ik heb veel te doen.
en: I have a lot do to.
fr: J’ai beaucoup à faire
it: Ho molto da fare.

de: Ich habe viel zu erzählen.
nl: Ik heb veel te vertellen.
en: I have a lot to tell.
fr: J’ai beaucoup à raconter.
it: Ho molto da raccontare.

Nicht allen Deutschlernenden dürfte diese Konstruktion also gleich viele Schwierigkeiten bereiten.

Die Antwort auf die Frage, wie genau wir es schaffen, jeweils problemlos den richtigen modalen Aspekt einer so formulierten Äußerung zu erkennen, muss ich Ihnen leider schuldig bleiben. Manchmal frage ich mich einfach, wie wir es bei so viel Mehrdeutigkeit überhaupt schaffen, einander auch nur annähernd zu verstehen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp