Wenn es um Fragen der Wortstellung im deutschen Satz geht, sollten Muttersprachige dem lieben Herrgott auf Knien dafür danken, dass sie sich nicht bewusst damit herumschlagen müssen! Was wir normalerweise intuitiv richtig machen, ist für Deutschlernende – und Deutschlehrende! – oft alles andere als einfach. Hier ein ganz kleiner Einblick anhand von Herrn B.s Frage:
Frage
Welcher Regel unterliegt die Satzgliedreihenfolge des hervorgehobenen Abschnitts bei:
Das ist der Mann, von dem mir meine Nachbarin viel erzählt hat.
Das ist der Mann, von dem meine Nachbarin mir viel erzählt hat.
Wenn ich meine Nachbarin durch sie ersetze, können Subjekt und Dativobjekt nicht mehr die Plätze tauschen:
Das ist der Mann, von dem sie mir viel erzählt hat.
falsch: Das ist der Mann, von dem mir sie erzählt hat.
Was ist hier die Regel?
Antwort
Sehr geehrter Herr B.,
die Regeln der deutschen Wortstellung sind bis auf wenige Ausnahmen keine festen Regeln, sondern mehr oder weniger starke Tendenzen. Komplizierend kommt hinzu, dass diese Tendenzen zum Teil widersprüchlich sind. Das ist auch hier der Fall. Im ersten Satz sind beide Wortstellungen möglich, weil hier zwei starke Tendenzen aufeinandertreffen.
Tendenz A*: Das Subjekt steht im Mittelfeld an erster Stelle.
Gestern hat mein Freund[Subj.] ein neues Smartphone[Akkusativobj.] gekauft.
Plötzlich musste ein Autofahrer[Subj.] dem Lastwagen[Dativobj.] ausweichen.
…, weil die Tochter[Subj.] den Eltern[Dativobjekt] das Kind[Akkusativobj.] verheimlicht hatte.
Tendenz B*: Pronomen steht vor Nomen.
Paula hat ihm[Pron.] die Bücher[Nomen] geschenkt.
Paula hat sie[Pron.] ihrem Freund[Nomen] geschenkt.
Die Tochter hatte es[Pron.] den Eltern[Nomen] verheimlicht.
Die Tochter hatte ihnen[Pron.] das Kind[Nomen] verheimlicht.
Wenn wir nun diese beiden Tendenzen im ersten Satz so wirken lassen, dass Tendenz A gewinnt, sieht er so aus:
Das ist der Mann, von dem meine Nachbarin[Subj.] mir[Obj.] erzählt hat.
Gewinnt hingegen die ungefähr gleich starke Tendenz B, erhalten wir diese Wortfolge:
Das ist der Mann, von dem mir[Pron.] meine Nachbarin[Nomen] erzählt hat.
Beim Ihrem zweiten Beispielsatz sind beide Satzglieder Pronomen. Die Tendenz B (Pronomen vor Nomen) hat deshalb ausgespielt und es wirkt nur noch die Tendenz A (Subjekt an erster Stelle):
Das ist der Mann, von dem sie[Subj.] mir[Dativobj.] erzählt hat.
nicht: Das ist der Mann, von dem mir sie erzählt hat.
Während im ersten Satz zwei starke, einander widersprechende Tendenzen zu zwei möglichen Wortstellungen führen, wirkt im ersten Satz nur eine starke Tendenz und ist deshalb nur eine Wortstellung möglich. In der Theorie sieht es also relativ einfach aus. Im praktischen Sprachgebrauch ist es aber schwierig bis unmöglich, während des Formulierens bewusst solche Entscheidungen zu treffen – zumal Tendenz A und B bei Weitem nicht die einzigen sind!
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp
*Es steht hier Tendenz und nicht Regel. Andere Wortstellungen sind also nicht prinzipiell ausgeschlossen. Siehe zum Beispiel die Angaben auf den oben verlinkten Seiten.
Die Stellung der Pronomina kann durchaus bedeutungstragend sein:
a) „Das ist die Geschichte, die sie mir erzählt hat” (anderen erzähle sie sie anders).
b) „Das ist die Geschichte, die mir sie erzählt hat” (ich hörte sie aber auch noch anders).
Wo ist der Unterschied? Nun, die unausgesprochene Alternative schlummert jeweils im zweiten Pronomen, das zu diesem Zweck besonders betont wird, das zweite ist also bedeutungstragender als das erste. Vor diesem Hintergrund ist auch
„Das ist der Mann, von dem mir sie erzählt hat”
möglich, aber nur, wenn dabei das „sie” betont wird, am besten visuell per Fingerzeig in Richtung Nachbarhaus.
Es gibt, wie im Artikel erwähnt, noch andere Wortstellungstendenzen, die ebenfalls eine Rolle spielen können. Eine davon lautet, dass im Mittelfeld alte oder weniger wichtige Information vor neuer oder wichtiger Information steht (siehe hier). Das Wichtige wird dabei in der gesprochenen Sprache stärker betont:
In a) wird die Tendenz »Alt vor Neu« duch die Tendenz »Pronomen vor Nomen« gestützt. In b) wird sie durch die Tendenz »Subjekt an erster Stelle« gestützt. Kommen wir nun zu Ihrem Beispiel. Ich halte diese Formulierung für zumindest sehr ungewöhnlich:
Üblich ist hier die folgende Wortstellung, auch wenn sie die neue, stärker betonte Information ist:
Die Tendenz »Subjekt an erster Stelle« ist stärker als die Tendenz «Alt vor neu». Im Gegensatz zu a) wird »Alt vor Neu« in d) durch keine andere Tendenz gestützt. Deshalb „gewinnt“ hier die Wortstellung Subjekt-Objekt und heißt es síe mir. Die Wortfolge mir síe ist ungebräuchlich, außer vielleicht, wie sie es darstellen, wenn sehr stark betont wird und der Zeigefinger zum Einsatz kommt.