Ein grammatisch-stilistischer Dauerbrenner: der Relativanschluss wo.
Frage
Mich interessiert, in welchen Fällen ich einen Nebensatz mit „wo“ beginnen kann. Ist ausschließlich eine Ortsbezeichnung gemeint oder kann das „wo“ auch eine Sache näher bezeichnen? Mein Beispielsatz lautet:
… wollen wir Punkte beleuchten, wo wir uns Änderungen vorstellen könnten.
Bin ich hier einem süddeutschen Fehlgebrauch aufgesessen?
Antwort
Sehr geehrte Frau G.,
manche meinen zwar, ein mit wo beginnender Relativsatz sei immer falsch, ganz recht haben sie damit aber nicht. Ein Relativsatz kann auch im Standarddeutschen mit wo eingeleitet werden, wenn das Bezugswort im übergeordneten Satz ein Nomen oder ein Adverb mit lokaler oder zeitlicher Bedeutung ist. Das Einleitewort wo muss sich also auf eine Orts- oder eine Zeitangabe beziehen. Siehe die letzten beiden Abschnitte auf dieser Seite.
Zeitlich zum Beispiel:
Jetzt, wo alle hier sind, können wir anfangen.
In Ihrem Satz geht es aber mehr um räumliches wo. Hier ein paar Beispiele:
Sie arbeitet in Hamburg, wo sie auch studiert hat, als Rechtsanwältin.
Er arbeitet immer noch in dem Laden, wo sie einander kennen gelernt haben.
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?*
In Ihrem Beispiel liegt die Schwierigkeit bei der Bestimmung, ob es sich im Hauptsatz um eine Ortsangabe (im übertragenen Sinne) handelt oder um ein „gewöhnliches“ Nomen. Dieser Übergang ist nämlich fließend. Problemlos sollte wo hier sein:
Das ist die Stelle, wo die Leiche gefunden wurde.
Schon mehr Zweifel kommen hier auf:
Das ist die Stelle im Text, wo die Autorin den Leichenfund beschreibt.
… wollen wir die Stellen beleuchten, wo wir uns Änderungen vorstellen können.
Auch in Ihrem Satz kann man mit etwas gutem Willen von einer räumlichen Verweisung im übertragenen Sinne sprechen:
Wo könnten wir uns Änderungen vorstellen? – Bei verschiedenen Punkten.
→ … wollen wir Punkte beleuchten, wo wir uns Änderungen vorstellen könnten.
Wobei könnten wir uns Änderungen vorstellen? – Bei verschiedenen Punkten.
→ … wollen wir Punkte beleuchten, bei denen (o. wobei) wir uns Änderungen vorstellen könnten.
Ich halte das wo in Ihrem Beispielsatz für gut vertretbar (nicht nur im süddeutschen Sprachraum!). Es handelt sich aber um einen Grenzfall. Außerdem vermeiden, wie oben gesagt, manche wo immer in Relativsätzen, weil sie fälschlich oder der Einfachheit halber annehmen, wo sei dort immer „verboten“. Es ist deshalb vielleicht zu empfehlen, hier nicht wo, sondern bei denen (oder wobei) zu verwenden – oder gut gewappnet in einen eventuellen Rechtfertigungsstreit zu ziehen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp
* Johann Wolfgang von Goethe: Willhelm Meisters Lehrjahre; 1795/96; 3. Buch, 1. Kapitel.