Vorzukunft in der Vergangenheit

Von der Vorzukunft in der Vergangenheit haben Sie wahrscheinlich noch nie gehört. Es ist auch eine Zeitform, die kaum jemand täglich verwendet.

Frage

Neulich habe ich den folgenden Satz gelesen: „Sie beschloss noch im selben Augenblick, dorthin zu fahren, sobald der Regen aufgehört haben würde.“

Zuerst dachte ich, das wäre „Zukunft in der Vergangenheit“, aber das passt nicht. […] Ich frage mich auch, was die einfachere Alternative für den gegebenen Satz wäre. Es könnte nur „…sobald der Regen aufhört“ sein, denn „sobald der Regen aufgehört hätte“ hat eine andere Bedeutung. Sehr gerne würde ich den grammatikalischen Kontext des Satzes besser verstehen.

Antwort

Sehr geehrte Frau S.,

die würde-Form aufgehört haben würde ist hier trotz Ihrer Zweifel eine Art Zukunft in der Vergangenheit. Es ist also keine Ersatzform für den Konjunktiv II. Deshalb würde aufgehört hätte nicht gut in den Satz passen.

Die würde-Form kommt häufig vor, wenn etwas Vergangenes in Bezug auf etwas anderes Vergangenes zukünftig war (Zukunft in der Vergangenheit):

Wir wussten, dass Marianne um 17 Uhr ankommen würde.
Als ihr in Nizza Rodolfo vorgestellt wurde, vermutete sie nicht, dass sie schon wenige Monate später mit ihm verheiratet sein würde.
Er nahm auf niemanden Rücksicht. Das würde er noch bereuen.

Um die Zeitverhältnisse in Ihrem recht komplexes Satz besser zu verstehen, nehmen wir ihn zuerst einmal auseinander:

Sie beschloss,
= Zeitpunkt X in der Vergangenheit
dass sie dorthin fahren würde, sobald der Regen aufgehört haben würde.
= zukünftig in Bezug auf den Zeitpunkt X

Dann ersetzen wir den dass-Satz durch eine Infinitivkonstruktion

Sie beschloss,
dorthin zu fahren, sobald der Regen aufgehört haben würde.

Die Zukünftigkeit sieht man gut, wenn man den Hauptsatz zuerst ins Präsens setzt:

Wir wissen, dass Marianne um 17 Uhr ankommen wird.
Wir wussten, dass Marianne um 17 Uhr ankommen würde.

Sie beschließt, dorthin zu fahren, sobald der Regen aufgehört haben wird.
Sie beschloss, dorthin zu fahren, sobald der Regen aufgehört haben würde.

Die Zeitverhältnisse sind in Ihrem Satz deshalb so kompliziert, weil der mit sobald eingeleitete Satz in Bezug auf dorthin fahren vorzeitig ist, in Bezug auf beschließen aber immer noch „zukünftig“. Die Form aufgehört haben würde ist also eigentlich nicht Zukunft in der Vergangenheit, sondern so etwas wie „Vorzukunft in der Vergangenheit“:

Sie beschließt dorthin zu fahren, sobald der Regen aufhören wird.
aufhören wird = Zukunft
Sie beschließt dorthin zu fahren, sobald der Regen aufgehört haben wird.
aufgehört haben wird = Vorzukunft, vorzeitige Zukunft

Sie beschloss dorthin zu fahren, sobald der Regen aufhören würde.
aufhören würde = Zukunft in der Vergangenheit
Sie beschloss dorthin zu fahren, sobald der Regen aufgehört haben würde.
aufgehört haben würde = Vorzukunft in der Vergangenheit

Wie so oft, wenn es um die Verwendung von Zeitformen im Deutschen geht, sind dies keine eisernen Regeln. Genauso wie die Zukunft im Deutschen nicht immer mit dem Hilfsverb des Futurs werden ausgedrückt wird, wird auch die Zukunft in der Vergangenheit nicht immer mit der würde-Form gebildet. Die Struktur des Satzes, der Sie beschäftigt, sollte damit aber erklärt sein.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

2 Gedanken zu „Vorzukunft in der Vergangenheit“

  1. Sehr geehrte(r) Dr. Bopp.

    Mit würde ist es alles klar. Koennen Sie mir bitte sagen ob Zeitkongruenz mit anderen Zeitformen gilt?

    Ich meine: Mein Freund hat einen Bruder. Er sagte er hat/hatte einen Bruder.
    Im Englieschen waere es – hatte einen Bruder, und im Deutschen?

    Mit freundlichen Gruessen.

  2. Üblich ist bei indirekter Rede der Konjunktiv I.

    Direkte Rede:

    Er sagt: »Ich habe einen Bruder.«
    Er sagte: »Ich habe einen Bruder.«

    Indirekte Rede:

    Er sagt, er habe einen Bruder.
    Er sagte, er habe einen Bruder.

    Ich vermute allerdings, dass Sie auch Fälle meinen, die in diesem Blogeintrag beschrieben werden.

Kommentare sind geschlossen.