Frage
Mein Kollege im Korrektorat hat den Satz „Man kann sich selbst sein“ in „Man kann man selbst sein“ korrigiert. Meiner Meinung nach ist das falsch. Ich glaube nicht, dass „man“ die Funktion eines Reflexivpronomens übernehmen kann.
Antwort
Guten Tag Herr H.,
die Formulierung Ihres Kollegen ist nicht falsch. Die standardsprachlich korrekte Formulierung ist tatsächlich:
Man kann man selbst sein.
Hier steht nicht das Reflexivpronomen, sondern ein Personalpronomen oder im Fall von man ein unbestimmtes Pronomen im Nominativ. Wir haben es nämlich mit einer Konstruktion zu tun, in der das Verb sein zwei Nominative, das Subjekt und ein Prädikativ, miteinander verbindet:
Wer kann wer oder was sein?
Das Problem: Ein Reflexivpronomen im Nominativ gibt es nicht (vgl. hier).
Standardsprachlich steht hier deshalb zweimal das Personalpronomen:
Wer bin ich? – Ich bin ich selbst.
Wer willst du sein? – Du willst du selbst sein.
Wer kann sie sein? – Sie kann sie selbst sein.
Wer dürfen wir sein? – Wir dürfen wir selbst sein.
Das gilt auch für das unbestimmte man:
Wer kann man sein? – Man kann man selbst sein.
Soweit die grammatisch korrekte Version in der Standardsprache. Wahrscheinliche Reaktionen sind nun zustimmendes „Ja, natürlich“ oder zweifelndes „Wirklich?“.
Mehr oder weniger umgangssprachlich verwendet man in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz bei dieser Wendung nämlich häufig „trotzdem“ das Reflexivpronomen:
Ich kann mich selber sein.
Er kann sich selbst sein
Man kann sich selber sein.
Auch wenn sie anderswo mit viel Skepsis empfangen wird, kommt diese „falsche“ Formulierung im südlichen deutschen Sprachraum vermutlich mindestens so häufig vor wie die korrekte. Das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass sie in Ihren Ohren gar nicht falsch klingt. Wenn in einem Text eher Umgangssprachliches erlaubt ist, kann insbesondere im südlichen deutschen Sprachraum auch Man kann sich selbst sein stehen. In einem formellen, standardsprachlichen Text wählen Sie besser Man kann man selbst sein (oder noch besser eine andere Formulierung).
In der Wendung sich selbst sein wird das Reflexivpronomen sich also auch im Nominativ verwendet. Das kann man nun sehr abwegig finden, aber wir verwenden sich problemlos auch im Dativ, obwohl es ursprünglich nur im Akkusativ vorkam (vgl. mit den Formen mich und dich). Was ist also „falscher“, das Personalpronomen ausnahmsweise auch einmal rückbezüglich zu verwenden oder das Reflexivpronomen ausnahmsweise auch einmal im Nominativ zuzulassen? In der Standardsprache gilt nur man selbst sein als richtig, „im Süden“ findet man (auch) sich selbst sein akzeptabel.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp
Bin Ostösterreicher, aber für mich sind die letzten drei Beispielsätze hochsprachlich wie dialektal absolut ungrammatisch.
Hier im Südwesten begegnen wir solchen Sätzen in der Umgangs- und Alltagssprache und wir halten sie im Allgemeinen nicht für ungrammatisch. Inwieweit dies für den gesamten süddeutschen (oberdeutschen) Sprachraum gilt, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Sie finden entsprechende Angaben zum Beispiel im Duden,Grammatik, 9. Auflage, 2016, Randnr. 367 (vi).
Mir fallen dazu jetzt (bissl off-topic) höchstens österreichspezifische Konstruktionen mit „sich“ (statt dem standardsprachlichen Pronomen) ein, die AFAIK aus dem Tschechischen beeinflusst sein sollen, wie etwa
„Des wer’ ma sich anschauen müssen.“,
aber die oben genannten Konstruktionen kämen mir zumindest für Ostösterreich und vmtl. auch Salzburg (wobei da meine Sprecherkompetenz geringer ist) komplett fremd vor.
Bei den Beispielsätzen steht teils “selbst”, teils “selber” – hat das einen tieferen Sinn? Oder könnte man überall, wo “selbst” steht, auch “selber” verwenden?
Man könnte sowieso überall, wo selber steht, auch selbst verwenden. Wenn es um die Bedeutung geht, kann umgekehrt auch überall selbst durch selber ersetzt werden. Zwischen selbst und selber gibt es nämlich nur einen „Niveaunterschied“: selber gilt bei vielen als umgangssprachliche Variante von selbst.