Frage
Warum wird das Adjektiv elend im Superlativ am elendesten um ein e erweitert, wenn doch die Regel lautet: est steht bei ENDbetontem Stamm mit d.
Antwort
Guten Tag A.,
die Regel, die Sie zitieren und die in ähnlicher Form auch auf unseren Seiten steht, ist einfach, aber sie trifft den Nagel nicht ganz auf den Kopf. Die e-Erweiterung (est statt nur st) findet genau genommen nicht bei Adjektiven statt, die auf der letzten Silbe betont sind, sondern bei Adjektiven, die auf eine Silbe mit einem Vollvokal enden. So sind Adjektive auf haft und los zwar nicht endbetont, ihre Endsilbe hat aber einen Vollvokal (unbetontes a resp. unbetontes o). Sie bilden deshalb den Superlativ „trotzdem“ mit est:
boshafteste
zweckloseste
Adjektivisch verwendete Partizipien auf end haben keinen solchen Vollvokal, sondern ein Schwa (ə), das nicht betont werden kann und das in der gesprochenen Sprache sogar ganz wegfallen kann (hier als Apostroph dargestellt). Sie bilden den Superlativ entsprechend mit st:
aufregend (aufregənd/aufreg’nd)
aufregendste (aufregəndste/aufreg’ndste)
blühend (blühənd/blüh’nd)
blühendste (blühəndste/blüh’ndste)
dringend (dringənd/dring’nd)
dringendste (dringəndste/dring’ndste)
Nun zu elend: Dieses Adjektiv endet eigentlich auf einen Vollvokal, ein unbetontes offenes e (ɛ), und nicht wie zum Beispiel fehlend oder stehlend mit einem Schwa. So sind fehlend und elend keine richtigen Reimwörter:
fehlend (fehlənd/fehl’nd)
elend (elɛnd/aber nicht: el’nd)
Da elend anders als zum Beispiel fehlend oder dringend mit einem Vollvokal endet, halten wir in Canoonet die Superlativform elendeste für richtig
elend, elender, elendeste
Ganz ohne ein Aber geht es allerdings nicht. Die Superlativform elendste kommt ebenfalls häufig vor. Das kann verschiedene Gründe haben: Der Vokal der zweiten Silbe von elend ist viel weniger als unbetonter Vollvokal erkennbar als zum Beispiel das a in Oma oder zweifelhaft und das o in Auto oder herzlos. Die Form elend sieht aus wie die adjektivischen Präsenspartizipien, die den Superlativ ggf. ohne e bilden. Vielleicht hat sogar die eingangs erwähnte, nicht ganz zugtreffende Regel einen Einfluss darauf, dass hier häufig kein e eingeschoben wird. Wir werden also in Zukunft einmal dem Gebrauch folgen und auch die e-lose Form angeben:
elend, elender, elendeste/elendste
Sprachregeln sollten mehr beschreiben als vorschreiben – und ohne Ausnahmen und Grenzfälle geht es ja ohnehin nie.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp
Ich würde noch vorbringen, dass in (Ost-)Österreich „elend“ definitiv keinen Vollvokal in der zweiten Silbe aufweist. Würde hier IMHO niemandem einfallen, „am elendesten“ zu schreiben – da sagen wir eher noch „elendig(lich)“ und steigern dann stattdessen das. 😉