Ein „nicht“, das nicht das Gegenteil ausdrückt: „bevor … nicht“

Frage

Mir sind heute der Satz „Wir fahren nicht los, bevor der Tank voll ist“ und der bedeutungsgleiche Satz „Wir fahren nicht los, bevor der Tank nicht voll ist“ aufgefallen. Gibt es da etwas Interessantes zu sagen, dass die Bedeutung trotz Verneinung gleich bleibt?

Antwort

Guten Tag Herr B.,

dieses nicht ist tatsächlich erstaunlich, denn üblicherweise drücken eine Aussage mit nicht und eine Aussage ohne nicht nicht dasselbe, sondern ziemlich genau das jeweilige Gegenteil aus. Dieses nicht ist auch nicht ganz unumstritten. Da seine Funktion nicht die Verneinung ist und man es auch weglassen kann, halten manche es für überflüssig oder sogar falsch. Doch eins nach dem anderen:

Verneinte Satzgefüge mit bevor und ehe haben oft die Bedeutung eines Bedingungssatzes. Der Nebensatz gibt eine Bedingung an, die erfüllt sein muss. Dabei muss der Hauptsatz verneint sein. Und nun kommt der interessanten Aspekt: Der Nebensatz kann ohne Bedeutungsunterschied mit oder ohne nicht stehen:

Ich bezahle nichts, bevor ich (nicht) eine detaillierte Abrechnung erhalte.
Bevor ich (nicht) eine detaillierte Abrechnung erhalte, bezahle ich nicht.
Ehe ich (nicht) mit allen Parteien gesprochen habe, treffe ich keine Entscheidungen.
Wir fahren nicht los, ehe der Tank (nicht) voll ist.

Die Verwendung dieses weglassbaren nicht im Nebensatz wird von einigen als umgangssprachlich oder falsch angesehen. Sie erklärt sich aus der speziellen konditionalen Bedeutung solange nicht, wenn nicht dieser temporalen (zeitlichen) Konjunktionen:

Solange ich nicht mit allen Parteien gesprochen habe, treffe ich keine Entscheidungen.
Wir fahren nicht los, solange der Tank nicht voll ist.

Man sollte diese spezielle Konstruktion wenigstens tolerieren, denn in einigen Fällen kann das nicht kaum weggelassen werden, ohne dass ein recht ungewöhnlich klingender Satz entsteht:

Du erhältst kein Geld, bevor du nicht sagst, was du damit machen willst.
Du erhältst kein Geld, bevor du sagst, was du damit machen willst. ??

Mir gefällt dieses weglassbare nicht sehr gut, weil es eine sprachliche Eigenartigkeit ist, die sich nicht auf Anhieb erklären lässt, wenig mit Logik zu tun hat, trotzdem gut verständlich ist und die Sprache ein bisschen abwechslungsreicher macht. Man sollte es nicht verurteilen, ehe man nicht auch diesen Aspekt berücksichtigt hat.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

4 Gedanken zu „Ein „nicht“, das nicht das Gegenteil ausdrückt: „bevor … nicht““

  1. Wäre es möglich, dass sich die Verwendung der Negativpartikeln in dieser Konstruktion gemäß Jespersens Zyklus ändert?

  2. Bei Jespersens Zyklus geht es um ein Phänomen in der sprachhistorischen Entwicklung der Verneinung (grob gesagt: Eine Art der Verneinung wird im Lauf der Zeit so abgeschwächt, dass sie durch einen neue Art der Verneinung unterstützt/ersetzt wird). Hier haben wir es aber nicht mit einer allgemeinen Abschwächung und Ersetzung der Negation im Lauf der Zeit zu tun, sondern mit einem nicht, das im aktuellen Sprachgebrauch stehen kann (bevor nicht = konditional ‚solange nicht‘) oder häufig auch weggelassen werden kann (bevor = temporal).

  3. Genau, mir ging es hier um die zeitliche Entwicklung der “bevor”-Konstruktion. Ob es möglicherweise so verläuft:
    (1) Wir fahren nicht los, bevor der Tank voll ist.
    (2) Wir fahren nicht los, bevor der Tank nicht voll ist.
    (3) ?Wir fahren los, bevor der Tank nicht voll ist.
    …, wobei (1) natürlich nicht Neuhochdeutsch sein muss, und wir uns momentan zwischen (1) und (2) befinden.
    Aber Ihre Erklärung, dass bevor nicht eine Assimilation an solange nicht ist, finde ich in der Tat einleuchtender.

  4. Um eine zeitliche Entwicklung feststellen zu können, müsste zuerst klar sein, wie lange es dieses besondere „nicht“ schon gibt. Dazu liegen mir leider keine Informationen vor. Noch schwieriger – oder eigentlich unmöglich – ist es, die zukünftige Entwicklung mit einiger Gewissheit vorherzusagen.

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