Auch wenn der Titel es vielleicht nahelegt, geht es nicht um theologische Fragen. Es geht nur ganz weltlich darum, ob Gnaden, Frieden und Welten hier im Plural oder im Singular stehen.
Frage
Meine Frage betrifft die Formulierung „voll der Gnaden“, wie man sie in älteren Übersetzungen des Ave Maria findet (wohingegen heute meist „voll der Gnade“ verwendet wird). Meine Frage ist, was für eine Form „der Gnaden“ hier genau ist. Nach „voll“ steht ja bekanntlich Genitiv, also bleibt eigentlich nur die Frage nach dem Numerus. Nach moderner Morphologie wäre „der Gnaden“ eindeutig Plural, aber die Verwendung von „Gnade“ im Plural scheint mir sehr unüblich und im Lateinischen steht ja auch „gratia plena“ und nicht „gratiis plena“. […]
Antwort
Guten Tag Herr H.,
bei der Form Gnaden in älteren Texten und Wendungen ist es oft schwierig, zu entscheiden, ob es sich um eine Pluralform oder eine Singularform handelt. Einerseits wurde und wird das deutsche Gnade häufiger im Plural verwendet als das lateinische gratia. Andererseits wechselte Gnade zum Teil zur schwachen Deklination, das heißt, die Form Gnaden wurde auch als Singularform verwendet. Es ist deshalb schwierig, zu beurteilen, ob es sich bei Gnaden in voll der Gnaden um einen Plural oder einen Singular handelte. Im heutigen Deutschen kann es nur noch eine Pluralform sein, was die neueren Übersetzungen von gratia plena mit voll der Gnade erklärt. Mehr dazu lesen Sie zum Beispiel im Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Eintrag Gnade, Punkt 5) und 6).
Gnade ist nicht das einzige weibliche Substantiv, dass auch im Singular mit schwachen Endungen verwendet wurde. Solche Formen haben noch in einigen Wendungen, Gedichten, Gebeten usw. „überlebt“:
von Gotten Gnaden
Friede auf Erden
dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden
auf Seiten der Gegenpartei
von Seiten der Klägerin
Undank ist der Welten Lohn
So viel von Seiten des Blogautors zur Formulierung voll der Gnaden.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp