Keine Angst, hier werden keine Insekten gequält, Frösche seziert oder frankensteinsche Monster zusammengesetzt. Es geht nur um ein fehlendes Tischbein und die Adjektivbeugung.
Frage
Ich habe mal wieder eine knifflige Frage und komme leider nicht weiter. Ist der folgende Satz grammatikalisch richtig?
Unruhig flackernde Kerzen standen auf einem Tisch, dessen eines fehlendes Bein durch einen Stapel Bücher ersetzt worden war.
Ich bin der Meinung, es müsste „… dessen eines fehlende Bein ersetzt …“ heißen.
Antwort
Guten Tag Frau R.,
die Antwort ist einfach: Der Satz ist mit dessen eines fehlendes Bein richtig formuliert. Etwas schwieriger ist die Erklärung, weshalb das so ist. Es geht um die Adjektivbeugung nach dessen und ein Zahlwort, das wie ein Artikel aussieht und sich wie ein Adjektiv verhält.
Auch wenn eines wie ein unbestimmter Artikel aussieht, ist es hier ein Zahlwort, das wie ein Adjektiv gebeugt wird. Es kann wie ein Adjektiv starke und schwache Endungen annehmen:
schwache Endung:
das eine Bein
dieses eine Bein
der eine Traum
dieser eine Traumstarke Endung:
sein eines Bein
dessen eines Bein
sein einer Traum
dessen einer Traum
Wie die Beispiele zeigen, wird ein Adjektiv – und in diesem Fall das Zahlwort ein… – nach dessen wie nach zum Beispiel sein stark gebeugt (vgl. hier und hier)
Das gilt auch auch für ein nachfolgendes Adjektiv, das heißt, ein weiteres Adjektiv wird gleich gebeugt (parallele Beugung):
schwache Endung:
das eine fehlende Bein
dieses eine fehlende Bein
der eine große Traum
dieser eine große Traumstarke Endung:
sein eines fehlendes Bein
dessen eines fehlendes Bein
sein einer großer Traum
dessen einer großer Traum
Der Satz ist also so, wie Sie in zitiert haben, richtig formuliert:
Unruhig flackernde Kerzen standen auf einem Tisch, dessen eines fehlendes Bein durch einen Stapel Bücher ersetzt worden war.
Es ist aber nicht sehr erstaunlich, dass Sie hier ins Zweifeln geraten sind. Formulierungen wie diese kommen nur selten vor. Weiter werden bei der Beugung von Adjektiven nach dessen und deren viele unsicher. Und wenn man dann einmal angefangen hat, darüber nachzudenken, hilft es nicht viel, dass eines ein Zahlwort ist, das wie ein Artikel aussieht und sich wie ein Adjektiv verhält.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp
Unruhig flackernde Kerzen standen auf einem Tisch, dessen eines fehlendes Bein durch einen Stapel Bücher ersetzt worden war.
Ich, magstristal vorbelastet, finde den Satz einen stil-losen Unsinn; man liest den Satz nur mit Grausen; und wenn er grammatisch sinnvoll wäre, ist er mir ein erzählersicher Zirkus. Ich würde den Relativsatz ersetzen, er führt funktional, also semantisch in die Irre, da man doch erst von den „vier Beinen“ erzählen kann, wenn eines fehlt, so dass man es erklären kann, wie ein Tischbein buch-gerecht ersetzt ist.
Vorschlag: Unruhig flackerten die Kerzen auf dem Tisch; von den vier Beinen war (nur) drei echt, eines war durch einen Stapel Bücher ersetzt worden; (passgenau, so dass er den Kerzen eine waagerechte Tischfläche bot.)
Ein (beinhe) vergleichbarer Fall:
Aber ich könnte mit Ihnen wegen der Ihnen fehlenden Beine beim besten Willen nicht verkehren.«
Auch wenn dort das Gespräch von den fehlenden Beinen eines Menschen handelt: Alfred Lichtenstein: Gespräch über Beine. 1915, in Die Aktion]: https://de.wikisource.org/wiki/Gespr%C3%A4ch_%C3%BCber_Beine
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Über Stilistisches lässt sich immer diskutieren, doch darum geht es in diesem Artikel nicht. Außerdem säbeln Sie einen Satz nieder, der hier ohne jeglichen Kontext auskommen muss. Es ist häufig einfach, einem aus dem Zusammenhang gelösten Satz vorzuwerfen, er sei undeutlich, unklar oder „irreführend“. Aber selbst dann übertreiben Sie. Es ist mir jedenfalls klar, was gemeint ist. Wenn bei einem Tisch von Beinen die Rede ist, geht man in der Regel bis zum Beweis des Gegenteils davon aus, dass er vier Beine hat, ohne dass dies explizit erwähnt wird. Der prototypische Tisch hat vier Beine. Selbst wenn der Tisch drei oder sechs Beine hat, ist der Satz noch nicht unbedingt irreführend. Wenn diese Tatsache wichtig ist, kann sie im Vorhergehenden oder Nachfolgenden erwähnt sein.
Nochmals: Darüber, ob dieser oder ein anderer Satz ein stilistisches Meisterwerk ist, lässt sich diskutieren – aber auch darüber, ob dieser Blog der richtige Ort dafür ist, es auf diese Weise zu tun. Dies ist nicht „Das Literarische Quartett“, sondern eine Rubrik, in der grammatische und orthografische Fragen „gewöhnlicher“ Sprachnutzer und -nutzerinnen behandelt werden.