Frage
Bei uns kam die Frage auf, ob in einem Buch, das in der Sie-Form geschrieben ist, Seitenverweise mit „siehe“ eingeleitet werden dürfen. Eigentlich handelt es sich ja um den Imperativ in der Du-Form. Immer „sehen Sie Seite XX“ zu schreiben, kommt mir aber äußerst seltsam vor.
Antwort
Guten Tag Herr R.,
„siehe“ ist eine alte Form, die heute in Anweisungen wie
siehe oben/unten/S. 23/Anhang/auch/…
oder in Ausrufen wie
siehe da!
verwendet wird. Die Form „siehe“ ist hier keine eigentliche du-Form (mehr), das heißt, sie wird auch in Texten verwendet, die in der Höflichkeitsform abgefasst sind.
Als Anweisung ist „siehe X“ im heutigen Deutschen zu einer festen Wendung in Texten geworden, denn gemeint ist ja nicht „etwas sehen“ („etwas erblicken“, „etwas mit den Augen wahrnehmen“), sondern „etwas ansehen“, „etwas betrachten“. Mit der Bedeutung „ansehen“ kommt „sehen“ im heutigen Deutschen eigentlich nur noch vor, wenn es um Filme und Sendungen geht:
Hast du den neuen „James-Bond-Film“ schon gesehen?
Ich rufe dich später zurück, wir sehen gerade „Tatort“.
Man verwendet deshalb bei Verweisen in Büchern u. Ä. in der Regel nicht die sonst übliche Imperativform des Singulars „sieh“, nicht die Pluralform „seht“ und besser auch nicht die Höflichkeitsform „sehen Sie“; also besser nicht:
sieh S. 23
seht S. 23
sehen Sie S. 23
sondern in allen Fällen
siehe S. 23
Das erklärt wahrscheinlich auch, warum „sehen Sie Seite XX“ Ihnen äußerst seltsam vorkommt.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp