Manchmal überfällt mich mehr oder weniger aus dem Nichts der Wunsch, zu wissen, woher ein bestimmtes Wort kommt. Letzthin war es das Wort „Kanon“, das eine ganz besondere Art mehrstimmigen Gesang bezeichnet (z. B. „Bruder Jakob“ bzw. „Frère Jacques“). Es gleicht seltsamerweise stark dem Wort „Kanone“, mit dem es von der Bedeutung gar nichts zu tun hat. Ich habe also zu den einschlägigen Wörterbüchern gegriffen und herausgefunden, dass „Kanon“ tatsächlich mit „Kanone“ verwandt ist – allerdings um mehrere Ecken.
Das Wort „Kanon“ stammt vom griechischen „kanṓn“ (κανών = gerade Stange, Lineal), das eine Ableitung von „kánna“ (κάννα = Rohr) ist. Schon im Griechischen wurde „kanṓn“ im übertragenen Sinne für u. a. Regel, Vorschrift verwendet. Später gelangte es in die lateinische Kirchensprache. Dort erhielt es neben verschiedene Bedeutungen, die hier nicht so interessant sind, die Bedeutung Lied oder Musikstück, bei dem die Stimmen nach strenger Regel nacheinander einsetzen. Der Weg von Rohr über Lineal und Regel bis hin zu mehrstimmiges Lied war also ziemlich weit und mit einigen Bedeutungsverschiebungen verbunden.
Der Weg, den „Kanone“ zurückgelegt hat, ist ein bisschen kürzer: Er fängt auch beim griechischen „kánna“ (κάννα = Rohr) an. Weiter geht es über lateinisches und italienisches „canna“ (Schilfrohr, Röhre) und die Ableitung „cannone“ (großes Rohr). Dieses Wort wird im 16. Jahrhundert ins Deutsche übernommen. Die Bedeutung änderte von großes Rohr zu schweres Geschütz, die Form wurde eingedeutscht und das Geschlecht wurde der als weiblich empfundenen Form angepasst. So wurde „canna“ über „il cannone“ zu „die Kanone“.
„Kanon“ und „Kanone“ gehen also beide auf dasselbe Wort zurück, das Rohr bedeutete. Beim Geschütz kann man sich mit etwas Mühe noch recht gut vorstellen, wie aus dem (großen) Rohr eine Kanone wurde. Beim Gesang hingegen ist der Zusammenhang mit der Grundbedeutung wegen der vielen Bedeutungsänderungen nicht mehr ersichtlich. Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie flexibel Verwendung und Bedeutung eines Wortes sich im Laufe der Wortgeschichte verändern können, so dass, etwas vereinfacht ausgedrückt, aus einem Rohr sowohl ein schweres Geschütz als auch ein mehrstimmiges Musikstück werden kann – und übrigens auch ein künstlicher Wasserlauf: „Kanal“.