Frage
Meine Frage bezieht sich auf das Pronomen „es“ in Passivsätzen, in denen das Akkusativobjekt einen bestimmten Artikel hat.
Mir ist klar, wie ich einen unpersönlichen Passivsatz mit dem unbestimmten Artikel bilde (a. = Aktiv, b. = Passiv mit „es“):
a. Man muss eine Lösung finden.
b. Es muss eine Lösung gefunden werden.a. Man kann Patienten empfangen.
b. Es können Patienten empfangen werden.
Aber was passiert, wenn das Akkusativobjekt einen bestimmten Artikel hat, kann man in diesem Fall das Pronomen „es“ anwenden?
a. Man muss die Lösung finden.
b. Es muss die Lösung gefunden werden.a. Man kann die Patienten empfangen.
b. Es können die Patienten empfangen werden
Hier klingt das Passiv mit „es“ komisch. Meine konkrete Frage lautet deshalb: Ist das Passiv mit „es“ Anfang des Satzes nur mit dem unbestimmten bzw. ohne Artikel möglich?
Antwort
Guten Tag Frau G.,
die Sätze, die Sie für zweifelhaft halten sind nicht falsch, aber sie sind ungewöhnlich und wirken veraltet oder dichterisch. Das liegt tatsächlich am bestimmten Artikel oder eigentlich daran, was mit dem bestimmten Artikel in der Regel ausgedrückt wird.
Es gibt in der deutschen Wortstellung eine Tendenz, dass Bekanntes, bereits Erwähntes (= Bestimmtes) im Satz weiter links steht als Neues, erstmals Erwähntes (= Unbestimmtes). Zum Beispiel:
Er gibt das Buch einem Freund.
Er gibt dem Freund ein Buch.Sie hat gestern Patienten empfangen.
Sie hat die Patienten gestern empfangen.
Diese Tendenz scheint auch zu wirken, wenn es um das sogenannten Platzhalter-es geht (= das es, das im Satz an erster Stelle vor der konjugierten Verbform steht, wenn kein anderes Satzglied diese Stelle einnimmt; siehe hier). Wie wir gesehen haben, steht ein bestimmtes Subjekt tendenziell an erster Stelle. Das hat zur Folge, dass das Platzhalter-es dort weniger gut zum Zuge kommen kann. Bei einem unbestimmten Subjekt hingegen, das tendenziell weiter hinten im Satz steht, kann das es viel einfacher die erste Stelle im Satz einnehmen:
Es können hier Patienten empfangen werden. (problemlos)
Es können die Patienten hier empfangen werden. (ungewöhnlich)Es muss eine Lösung gefunden werden. (problemlos)
Es muss die Lösung gefunden werden. (ungewöhnlich)
Das gilt auch bei anderen Formulierungen mit dem Platzhalter-es:
Es steht ein Schrank im Korridor. (problemlos)
Es steht der Schrank im Korridor. (ungewöhnlich)Es wartet eine Frau auf Sie. (problemlos)
Es wartet die Frau auf Sie. (ungewöhnlich)
Der langen Rede kurzer Sinn: Die Regel, die Sie am Schluss Ihrer Frage andeuten, ist richtig, außer dass es keine Regel, sondern nur eine starke Tendenz ist: Im heutigen Deutschen wirken Formulierungen mit einem Platzhalter-es und einem Subjekt mit einem bestimmten Artikel meistens ungewöhnlich, das heißt veraltet, dichterisch oder sehr gehoben.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp
PS: Ganz so einfach ist es natürlich auch hier nicht, denn auch diese Tendenz kennt Ausnahmen. Zum Beispiel:
Es stellt sich hier die Frage, welche und wie viele Ausnahmen es gibt.
Diese Wendung klingt nicht ungewöhnlich, obwohl das Subjekt (die Frage) den bestimmten Artikel bei sich hat.
Bzgl. des PS:
Ich denke, dass der Beispielsatz hier deswegen unproblematisch ist, weil der bestimmte Artikel nur durch den Relativsatz notwendig ist, oder? D.h. trotz bestimmten Artikels ist “die Frage” noch unbestimmt und wird erst im Relativsatz näher definiert, sodass es eben in diesem Beispiel anders liegt als in den obigen Erklärungen.
Das ist auch meine Interpretation: “die Frage” wird hier trotz des bestimmten Artikels erst durch den Relativsatz näher definiert. Der Satz passt also in die Tendenz, dass das Platzhalter-es problemlos bei einem (vorerst) unbestimmten Subjekt stehen kann. Ich habe es aber nicht erwähnt, weil es hier auch wieder Gegenbeispiele gibt:
Wie so oft bei Wortstellungstendenzen, ist es schwierig, genaue Grenzen zu ziehen. Man müsste genauer nachforschen (wenn man Zeit dafür hätte …), was stärker wirkt, das Vorkommen des bestimmten/unbestimmten Artikels oder wirkliche Bestimmtheit/Unbestimmtheit.