Frage
Kann es sein, dass ein und derselbe Ausdruck zwei entgegengesetzte Bedeutungen hat? Ich meine nichts Geringeres als »nichts weniger als«. Angeblich kann diese Formulierung sowohl »nichts Geringeres als« als auch »alles andere als« zum Ausdruck bringen. Erstere Bedeutung war mir bekannt, letztere ist mir aber erst neulich begegnet, als ich in einem Roman aus dem 19. Jahrhundert las, wie ein angebranntes Essen als »nichts weniger als einladend« empfunden wurde. Das hat mich verwirrt, denn das Essen war ganz bestimmt nicht einladend. […]
Antwort
Guten Tag Herr M.,
ein interessantes Phänomen! Es geht um eine Wendung, die auf zwei verschiedene Arten verstärkend sein kann. Sie kann eine verstärkende Verneinung sein und bedeutet dann alles andere als:
Mit dem Misserfolg bin ich nichts weniger als glücklich
= alles andere als glücklich
Sie kann aber auch als Ganzes eine Verstärkung sein und bedeutet dann nichts Geringeres als:
Mit dem tollen Erfolg bin ich nichts weniger als glücklich
= sehr glücklich
Dieselbe Formulierung kann zwei gegenteilige Bedeutungen haben. Das ist erstaunlich, und trotzdem fällt es mir im Alltag kaum je auf. Das liegt daran, dass Formulierungen dieser Art – anders als die Beispiele oben – kaum je nebeneinanderstehen und sich meist aus dem Kontext ergibt, was gemeint ist: Wenn das angebrannte Essen nichts weniger als einladend war, kann es eigentlich nur alles andere als einladend gewesen sein, denn angebranntes Essen schmeckt in der Regel niemandem. Wenn das, was ein Unternehmen braucht, nichts weniger als eine umfassende digitale Marketing-Plattform ist, kann eigentlich nur gemeint sein, dass es dringend eine umfassend digitale Marketing-Plattform braucht – vor allem wenn der Text von einer Firma stammt, die solches entwickelt und verkauft.
Beide Verwendungen sind gebräuchlich und beide sind im allgemeinen Sprachgebrauch als richtig anzusehen – auch wenn manche strengeren Zeitgenossen und Zeitgenossinnen mit der „Sprachlogik“ im Anschlag meinen, nichts weniger als mit der Bedeutung nichts Geringeres als sei falsch. Wenn sich allerdings nicht aus dem Kontext ergibt, was gemeint ist, kann man nichts weniger als besser nicht verwenden:
Der Film ist nichts weniger als langweilig
= alles andere als langweilig / sehr langweilig?
Ich habe heute Abend Filmabend und hoffe deshalb, dass die Bedeutung alles andere als zutreffen wird.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp
“Mit dem tollen Erfolg bin ich nichts weniger als glücklich = sehr glücklich”?
Das halte ich für falsch. Es handelt sich einfach um eine Verwechslung (eine sehr häufige übrigens!) mit “nicht weniger als”. Das s macht den Unterschied.
“Ich bin nichts weniger als glücklich” = “Ich bin alles andere als glücklich” = “Ich bin unglücklich”
“Ich bin nicht weniger als glücklich” = “Ich bin glücklich”
Selbst wenn es sich um eine Verwechslung oder ein weggefallenes s handelt, ist die „falsche“ Bedeutung doch leicht anders.
Die Wendung nichts weniger als mag logisch gesehen nur das eine bedeuten können/dürfen, sie hat im allgemeinen Sprachgebrauch (inkl. Duden, Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle) auch die andere Bedeutung. Ein häufiger Fehler oder eine andere (idiomatische) Bedeutung? Vor allem wenn nach als ein Substantiv folgt, ist nach den Fundstellen im Internet und im DWDS-Korpus die Lesung nichts Geringeres als viel häufiger.
Ja, das ist die bekannte Sprachwandel-Diskussion. Der Ablauf ist der: Eine Wendung hat zunächst eine bestimmte Bedeutung, im gegebenen Fall ist es sogar die logische/wörtliche (nichts weniger als = anything but). Nun gibt es eine andere, ähnliche oder ähnlich klingende Wendung (nicht weniger als = not less than) mit einer anderen Bedeutung. Natürlich lädt dies zu Verwechslungen ein. Immer mehr Leute und auch Medien verwenden die Wendungen austauschbar. Nach dem Mehrheitsargument (Googletreffer zählen) wird dann alles irgendwie richtig – schließlich hat es so erst in der Apothekenrundschau gestanden, dann in der Badischen Zeitung (oder umgekehrt) und schließlich sogar im SPIEGEL. Und zuletzt im Duden. OK, spätestens dann ist es “richtig”. Oder jedenfalls hinzunehmen. Trotzdem stört es mich, jedesmal.
Ein anderes Beispiel ist das Paar scheinbar/anscheinend. Dazu z.B. die LEO-Diskussion https://dict.leo.org/forum/viewGeneraldiscussion.php?idThread=1099536&idForum=4&lang=de&lp=ende
Sie gehen davon aus, dass nichts weniger als eine falsche Verwendung von nicht weniger als ist. Könnte es nicht auch eine Verkürzung von um nichts weniger als oder der Ersatz des substantivierten Adjektivs Geringeres durch das unbestimmte Zahlwort/Pronomen weniger sein? Und wäre das dann auch falsch?
Wie dem auch sei: Es ist richtig, dass immer wieder „echte“ und vermeintliche Fehler langsam in die Standardsprache eindringen und mit der Zeit als richtig akzeptiert werden. Weitere umstrittene Fälle finden Sie hier (anscheinend/scheinbar), hier (nicht, bevor nicht) oder hier (das Gleiche / dasselbe). Das Motto könnte sein: „Die Fehler von heute sind die Regeln von morgen.“ Ganz so einfach ist es nicht, denn lange nicht allen Fehlern gelingt es, in die Standardsprache vorzudringen, und nicht alles, was strengere Grammatikerinnen und Sprachhüter als Fehler bezeichnen, ist auch wirklich falsch.