Frage
Es geht diesmal um das Adjektiv „vermeintlich“. Ich frage mich, ob es vor einem Substantiv immer gebeugt wird oder ob es auch ungebeugt geht, wenn es vor einem substantivierten Adjektiv oder Partizip steht. Konkret: Muss es zwingend heißen: „Der vermeintliche Vergiftete entpuppte sich als kerngesund“, oder geht auch: „Der vermeintlich Vergiftete entpuppte sich als kerngesund“?
Antwort
Guten Tag Herr H.,
was hier möglich ist, hat weniger mit dem Adjektiv vermeintlich zu tun als mit der Tatsache, dass es vor einem substantivierten Partizip steht. Dann kann das Adjektiv im Prinzip gebeugt und ungebeugt sein:
In Ihrem Beispiel kann vermeintlich nach der Substantivierung von vergiftete zu der Vergiftete hinzugefügt werden. Dann ist es ein attributives Adjektiv, das gebeugt wird:
der vergiftete Mann → der Vergiftete → der vermeintliche Vergiftete
Es kann aber auch vor der Substantivierung zu vergiftete treten. Dann ist es ein adverbial verwendetes Adjektiv, das auch nach der Substantivierung ungebeugt bleibt:
der vergiftete Mann → der vermeintlich vergiftete Mann → der vermeintlich Vergiftete
Beide Konstruktionen sind möglich und gut vertretbar:
Der vermeintliche Vergiftete entpuppte sich als kerngesund.
Der vermeintlich Vergiftete entpuppte sich als kerngesund.
Ich sehe in diesem Fall übrigens keinen wesentlichen Bedeutungsunterschied. Dem glücklichen Manne, um den es hier geht, ist es bestimmt gleichgültig, ob er ein vermeintlicher Vergifteter oder ein vermeintlich Vergifteter ist. Wichtig ist vor allem, dass er in beiden Fällen kerngesund ist.
Andere Beispiele (z. T. mit deutlichem Bedeutungsunterschied):
die fleißigen Studierenden
die fleißig Studierendendie selbstständige Mitarbeitende
die selbstständig Mitarbeitendeder schöne Frisierte
der schön Frisiertedas gemeinsame Ersparte
das gemeinsam Ersparte
Man muss aber nicht jedesmal analysieren, ob das Partizip durch ein adverbiales Adjektiv näher bestimmt und dann substantiviert wird oder ob ein attributives Adjektiv zum substantivierten Partizip tritt. Meist macht man das ohne langes Nachdenken richtig.
Mir fällt hierbei übrigens auf, dass sich nicht durch eine allgemeine Regel vorhersagen lässt, ob es fast keinen, einen kleinen oder einen wesentlichen Bedeutungsunterschied zwischen den beiden Formulierungsarten gibt. Das ergibt sich jeweils aus der Bedeutung der einzelnen Wörter und dem Kontext.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp
Zu dieser Fragestellung gibt es eine hilfreiche Erklärung unter https://www.korrekturen.de/nachgefragt/der_eingebildete_kranke.shtml .