Frage
Neulich habe ich den Spruch gehört: „Lieber ein reflektierter Atheist als ein unreflektierter christlicher Fundamentalist.“ Meine Frage dazu: Müsste es nicht heißen „ein reflektierender Atheist“ und ein „nicht reflektierender christlicher Fundamentalist“ ?
Antwort
Guten Tag Herr Z,
zuerst habe ich mich vor allem gewundert, denn mir war diese Verwendung von reflektiert bis zu Ihrer Frage nie aufgefallen. Schon nach einem kurzen Blick ins Internet musste ich aber feststellen, dass Formulierungen wie ein reflektierter Mensch, eine reflektierte Führungskraft und die reflektierte Theologin offenbar keine Seltenheit sind. Sind sie korrekt?
Das Partizip reflektiert kann eigentlich nicht so verwendet werden. Das Verb reflektieren bedeutet unter anderem1:
über etwas reflektieren = über etwas nachdenken
etwas reflektieren = etwas erwägen, überdenken
Wenn (über) etwas reflektiert worden ist, ist darüber nachgedacht worden, hat jemand es gründlich überdacht:
ein reflektiertes Urteil = ein (gut) durchdachtes Urteil
die reflektierte Nutzung digitaler Medien = die (gut) durchdachte Nutzung …
Das adjektivisch verwendete Partizip reflektiert steht also vor dem, worüber nachgedacht oder reflektiert wird. Es bezieht sich auf das Akkusativobjekt bzw. das Präpositionalobjekt. Es bezieht sich nicht auf das zum Verb reflektieren gehörende Subjekt: Die Person, die reflektiert, ist nicht die reflektierte Person, sondern die reflektierende Person. Man kann es mit der Person vergleichen, die nachdenkt oder überdenkt. Das ist nicht die nachgedachte oder überdachte Person, sondern die nachdenkende oder überdenkende Person.
Das gilt auch dann, wenn reflektierend nicht einen einmaligen Vorgang beschreibt, sondern als Charaktereigenschaft gemeint ist. Ein reflektierender Mensch kann eine Person sein, die gerade nachdenkt, aber auch eine Person, die dies regelmäßig oder immer tut.
Ähnliches gilt für die mit un- verneinte Form unreflektiert. Wenn man etwas unreflektiert tut, tut man es ohne nachzudenken, spontan. Unreflektiert ist das, worüber nicht nachgedacht wird oder nicht nachgedacht worden ist (zum Beispiel: unreflektiertes Handeln, unreflektierte Meinungen, unreflektierte Verehrung). Eine Person, die nicht oder gar nie nachdenkt, ist nicht eine unreflektierte Person, sondern eine nicht reflektierende Person.
Der langen Rede kurzer Sinn ist, dass Sie recht haben. Der Spruch sollte besser so lauten:
Lieber ein reflektierender Atheist als ein nicht reflektierender christlicher Fundamentalist.
ABER (ohne ein Aber geht es kaum je): Wenn man einmal darauf achtet, begegnet man viel häufiger, als ich es erwartet hätte, Formulierungen, in denen von reflektierten oder unreflektierten Personen die Rede ist. Es könnte also sein, dass das Partizip reflektiert auf dem Wege ist, sich zu einem selbständigen Adjektiv mit eigener Bedeutung zu entwickeln: reflektiert = immer/häufig über vieles reflektierend/nachdenkend. Es wäre nicht das erste und sicher nicht das letzte Partizip, dass sich „verselbständigt“ (man denke hier zum Beispiel an schreiende Farben und ausgekochte Kriminelle). Vorläufig ist es aber noch nicht ganz so weit, so dass ich empfehlen würde, von reflektierenden und nicht reflektierenden Menschen statt von reflektierten und unreflektierten Menschen zu sprechen. Auf die hier unweigerlich aufkommende Bemerkung über Menschen vor dem Spiegel gehe ich nicht weiter ein1.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp
1 Die anderen Bedeutungen von „reflektieren“ sind hier – außer für humoristisch gemeinte Einlagen – nicht relevant.
Nachfrage
Sie schreiben: »Das adjektivisch verwendete Partizip ›reflektiert‹ steht also vor dem, worüber nachgedacht oder reflektiert wird. Es bezieht sich auf das Akkusativobjekt bzw. das Präpositionalobjekt.«
Was ist, wenn das Akkusativobjekt die eigene Person / das eigene Ich meint:
Beispiel:
»Er reflektiert sich immer selbst.«
»Er reflektiert sich nicht selbst.«
Spricht man in solchen Fällen dann nicht von einer reflektierten bzw. nicht reflektierten Person?
Ich vermute auch, dass es hier in irgendeiner Form um die mediale Form bzw. Bedeutung von »sich reflektieren« gehen dürfte.
Man kann auch über sich selbst nachdenken oder reflektieren. Dann ist der (selbst)reflektierte Mensch streng genommen der Mensch, der die Selbstreflexion abgeschlossen hat. Wenn wirklich dies gemeint ist, kann man vom (selbst)reflektierten Menschen sprechen. Ich gehe aber davon aus, dass in der Regel jemand gemeint ist, der die Reflexion nicht abgeschlossen hat, also ein reflektierender oder selbstreflektierender Mensch ist.
Wenn es um Selbstreflexion geht, ist häufiger vom selbstreflektierten Menschen die Rede, wo – soweit ich es verstehe – eigentlich der selbstreflektierende Mensch gemeint ist. In diesem Bereicht hat vielleicht selbstreflektiert schon eine eigenständige Bedeutung erhalten. Es bezieht sich dann nicht nur auf das Resultat einer abgeschlossenen Reflexion, sondern auch auf das Subjekt wiederholten, regelmäßigen oder andauernden Reflektierens.
Ein ähnliches Geschwisterpaar dürften “hochauflösend” und “hochaufgelöst” sein. “Hochauflösende Bilder” irritieren mich immer ein wenig; ich finde “hochaufgelöste Bilder” besser. Mit “Bildern (in) hoher Auflösung” ist man stets auf der sicheren Seite. Beim Wort “Bildschirm” ist es umgekehrt; er sollte immer “hochauflösend” sein, weil er “hochaufgelöste” Bilder produziert. Zusammen mit dem Wort “Darstellung” sind beide Varianten möglich, weil es sowohl Herstellung (hochauflösend) als auch Ergebnis (hochaufgelöst) bezeichnen kann. Im Englischen wird einfach das Substantiv “high-resolution” (pictures, screen, rendering) wie ein Adjektiv verwendet.
Ein weiterer Gedanke
»reflektiert sein« verhält sich m. E. synonym zu »besonnen sein«. Beides sind partizipiale Adjektive mit der Bedeutung »ruhig und vernünftig abwägend«¹. In solch einem Bedeutungskontext ist dann nicht die Rede von einem (sich) besinnenden Menschen, sondern von einem besonnenen Menschen.
¹ https://www.duden.de/rechtschreibung/besonnen_Adjektiv
»besonnen sein« wie auch »reflektiert sein« sind jeweils ein Zustandsreflexiv wie im Fall von »verliebt sein«:
Aktiv: Peter verliebt sich (in Anna).
Passiv: — (nicht möglich)*
Zustandsreflexiv: Peter ist (in Anna) verliebt.
Mit der Form »besonnen sein« bzw. »verliebt sein« als Zustandsreflexiv wird nicht allein ein Resultat eines abgeschlossenen Vorganges angegeben, sondern auch ein (Geistes-)Zustand. Das trifft m. E. auch für »reflektiert sein« zu.
Die Verben sich besinnen und sich verlieben sind echte reflexive Verben, das heißt, sie werden nur zusammen mit dem Reflexivpronomen verwendet. Die Perfektpartizipien echter reflexiver Verben können im Allgemeinen nicht adjektivisch verwendet werden:
Adjektivischen Partizipien wie verliebt (sich verlieben), betrunken (sich betrinken), besonnen (sich besinnen) sind Ausnahmen, die gewöhnlich im Wörterbuch aufgeführt werden und in vielen Fällen “sogar” gesteigert werden können. Sie haben sich also zu einem gewissen bis hohen Grad verselbständigt.
Bei sich reflektieren im Sinne von über sich nachdenken, sich überdenken handelt es sich (falls es so verwendet wird) um ein reflexiv verwendetes Verb. Bei reflexiv verwendeten Verben steht das Reflexivpronomen anstelle des Akkusativobjekts, das sonst stehen kann, und hat auch dessen Funktion. Das adjektivische Partizip reflexiv verwendeter Verben bezieht sich auf das Resultat der Verbhandlung:
Eine reflektierte Person ist dann also eine Person, die sich reflektiert hat. Das ist aber bei der folgenden Art von Verben nicht üblich:
Ähnlich, wenn auch nicht mit Akkusativobjekt:
Die Interpretation, dass eine reflektierte Person eine Person ist, die eine reflektierende Geisteshaltung hat, ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, sie bedingte aber eine gewisse Verselbständigung des adjektivischen Partizips, die (noch?) nicht üblich ist.