Frage
In einem italienischen Sprachengymnasium bin ich folgender Regel begegnet: „Bei Relativsätzen darf das Prädikat nicht geschieden werden.“
Richtig: Ein Passant hat dem Kind geholfen, das von einem großen Hund angegriffen wurde.
Falsch: Ein Passant hat dem Kind, das von einem großen Hund angegriffen wurde, geholfen
Aber gibt es in der deutschen Grammatik eine solche Regel?
Antwort
Guten Tag Frau V.,
die „Regel“, die Sie zitieren, gibt es so nicht. Statt „darf nicht geschieden werden“ müsste stehen, „sollte nicht geschieden werden“ oder „wird heute üblicherweise nicht geschieden“. Für Ihr Beispiel bedeutet dies:
- Üblich:
Ein Passant hat dem Kind geholfen, das von einem großen Hund angegriffen wurde.
- Weniger üblich / besser nicht:
Ein Passant hat dem Kind, das von einem großen Hund angegriffen wurde, geholfen.
Der zweite Satz ist also nicht falsch oder ungrammatisch. Er ist im heutigen Sprachgebrauch nur weniger üblich und weniger leicht verständlich. Stilistisch ist der erste Satz besser. Hier noch zwei Beispiele:
- Üblich / besser:
Ich habe mir endlich das Smartphone gekauft, das ich schon lange wollte.
Ich will darauf neue Applikationen installieren, die ich noch nicht hatte.
Weniger üblich / besser nicht (aber nicht falsch):
Ich habe mir endlich das Smartphone, das ich schon lange wollte, gekauft.
Ich will darauf neue Applikationen, die ich noch nicht hatte, installieren.
Die „Regel“ ist auch aus einem weiteren Grund viel zu generalisierend. Bei nichtrestriktiven (appositiven, explikativen) Relativsätzen ist die Stellung zwischen den Prädikatsteilen sogar üblicher als die Auslagerung an den Schluss:
- Üblich:
Er hat Max, den er [übrigens] schon lange kennt, bei der Arbeit geholfen.
Sie hat in Boppard, das am Rhein liegt, gewohnt.
Auch möglich, aber nicht bzw. weniger üblich:
Er hat Max bei der Arbeit geholfen, den er [übrigens] schon lange kennt. [?]
Sie hat in Boppard gewohnt, das am Rhein liegt.
Ob der Relativsatz an den Schluss gestellt wird oder nicht, hat oft auch mit seiner Länge zu tun: Je länger er ist, desto stärker die Tendenz, ihn nach hinten auszulagern. Siehe hierzu auch diese Angaben in der LEO-Grammatik.
Für den Sprachunterricht ist dies alles wahrscheinlich etwas zu kompliziert. Sie könnten deshalb erwägen, die „Regel“ abzuschwächen (statt sie ganz zu streichen):
Bei Relativsätzen sollte das Prädikat nicht geschieden werden.
Bei Relativsätzen wird das Prädikat besser nicht geschieden.
Das ergibt in den meisten Fällen stilistisch bessere Sätze. Wo dies nicht der Fall ist (z.B. bei kürzeren nichtrestriktiven Relativsätzen), kann diese Faustregel zu unüblichen Formulierungen führen. Dafür werden Lernende aber nicht verunsichert, wenn sie in deutschen Texten Relativsätzen begegnen, die nicht nach hinten ausgelagert sind. Sie kommen auch vor und sind nicht falsch.
Die deutsche Wortstellung hat es auch hier in sich: Es gibt keine oder kaum feste Regeln, nur mehr oder weniger starke Tendenzen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp