Frage
Ich stolpere immer wieder über „Betroffene von Hass“ oder Betroffene von allen möglichen anderen Übeln dieser Welt. Meinem Sprachgefühl nach muss es „von Hass Betroffene“ heißen. Offenbar ändert sich das. Wie weit ist hier der Sprachwandel? Ist „Betroffene von …“ schon auf dem Weg zur Korrektheit?
Antwort
Guten Tag Frau W.,
Sie stolpern nicht zu Unrecht. Die Wortstellung in einer (substantivierten) Partizipgruppe sollte gleich sein wie in einem entsprechenden Relativsatz. Das Verb bzw. das Partizip steht am Schluss hinter den Erweiterungen:
das Dossier, das aus der Schublade verschwunden ist
→ das aus der Schublade verschwundene Dossierdie Leute, die auf den Bus warten
→ die auf den Bus Wartendendas, was von dir behauptet wird
→ das von dir Behauptetediejenigen, die in der Stadt wohnen
→ die in der Stadt Wohnenden
Das gilt auch für betroffen mit der Bedeutung heimgesucht:
die Gegend, die von Überschwemmungen betroffen ist
→ die von Überschwemmungen betroffene Gegenddiejenigen, die von Hass betroffen sind
→ die von Hass Betroffenen
Warum man häufiger der Wortstellung die Betroffenen von Hass begegnet, weiß ich leider nicht. Es könnte an einem Einfluss aus dem Englischen liegen (affected by hate), aber dafür liegen mir keine weiteren Informationen oder „Beweise“ vor. Ich halte diese Wortstellung für nicht korrekt, aber ich kann natürlich nicht ausschließen, dass es etwas von Sprachwandel Betroffenes ist, das vielleicht einmal allgemein als korrekt gelten wird.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp
PS: Ganz ohne Ausnahmen geht es auch hier nicht: Wenn die Erweiterung durch eine Präposition eingeleitet wird und sehr lang oder komplex ist, kann sie auch nachgestellt sein:
Nebensatz:
diejenigen, die betroffen sind von in den sozialen Medien geäußertem Hass auf ihre Person und auf alles, was sie geschaffen haben
Partizipgruppe:
die Betroffenen von in den sozialem Medien geäußertem Hass auf ihre Person und auf alles, was sie geschaffen haben
(statt: die von in den sozialen Medien geäußertem Hass auf ihre Person und auf alles, was sie geschaffen haben, Betroffenen)
Wirklich elegant klingen solche Formulierungen für mich allerdings nicht. Oft ist es einfach besser, nicht alles in eine Wortgruppe zu pressen.
Ich würde «Betroffene von Hass» mit «Opfer von Hass» vergleichen. Oder hier: «Vorsitzender des Aufsichtsrats» (statt «dem Aufsichtsrat Vorsitzender»), «Beschäftigte der Universität».
Nur weil ein nominal gebrauchtes Partizip verwendet wird, heißt das ja nicht, dass nicht wie bei einem waschechten Nomen wie «Opfer» ein Genitiv (oder eine «von»-Konstruktion) angeschlossen werden kann, oder?
Ein substantiviertes Partizip behält die Ergänzungsstruktur des Verbs. Erst wenn es sich als Substantiv „verselbstständigt“ hat, kann es zum Beispiel ein Genitivattribut (bzw. ein von-Attribut) bei sich haben. Die Vorsitzende des Aufsichtsrates ist es auch, wenn sie nicht dem Aufsichtrat vorsitzt. Die Studierenden der Uni Jena sind es auch, wenn sie in den Semesterferien am Strand liegen oder in den Bergen wandern. Sie sind mit der erweiterten Bedeutung in der Regeln nicht die stellvertretend Vorsitzende oder die fleißig Studierenden, sondern die stellvertretende Vorsitzende und die fleißigen Studierenden, wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, stellvertretend vorzusitzen oder fleißig zu studieren.
Die Abgrenzung ist nicht ganz so einfach und deutlich. Die Grenzen sind fließend. Ich halte aber Formulierungen wie die Betroffenen ihres Hasses, die Betroffenen der Inflation oder die unmittelbaren Betroffenen grammatisch für zumindest ungebräuchlich.
Das gilt auch für das von-Attribut, das zwar zu die Opfer von Hass, aber nicht zu die Betroffenen von Hass passt. Es handelt sich bei von … (betroffen) nicht um ein Attribut, sondern um die Agensangabe in einer Passivkonstruktion: der Hass betrifft sie -> sie sind von Hass betroffen -> die von Hass betroffenen Menschen -> die von Hass Betroffenen.