Frage
Ich habe gelesen, dass die Höflichkeitsform im Plural identisch sei mit der Höflichkeitsform im Singular. Ist das richtig? […]
Singular, zu einer einzelnen Person: „Haben Sie alles gefunden, was Sie brauchen?“
Plural, zu einer Personengruppe: „Haben Sie alles gefunden, was Sie brauchen?“
Singular, zu einer einzelnen Person: „Ich gebe Ihnen den Schlüssel zu den Gebäuden.“
Plural zu einer Personengruppe: „Ich gebe Ihnen den Schlüssel zu den Gebäuden.“
Folgendes irritiert mich:
Wir können in der Nicht-Höflichkeitsform zwischen Singular und Plural unterscheiden, deshalb gibt es ja den Plural. Ich finde es sehr merkwürdig, dass man in der Höflichkeitsform nicht zwischen Singular und Plural unterscheidet.
Wenn es den Plural in der Höflichkeitsform nicht braucht, wieso den Plural nicht auch in der Nicht-Höflichkeitsform abschaffen?
Weshalb hat man den Plural überhaupt eingeführt? Offenbar geht es auch ohne […]
Antwort
Guten Tag Herr W.,
die Höflichkeitsform ist im Deutschen tatsächlich für eine und für mehrere Personen identisch. Man verwendet in beiden Fällen die dritte Person Plural:
Haben Sie alles gefunden, was Sie brauchen?
Ich gebe Ihnen den Schlüssel zu den Gebäuden.
Was gemeint ist, ergibt sich in der Regel problemlos aus dem Kontext. Wenn dem nicht so ist, hilft in der gesprochenen Sprache meist ein Blick oder man ergänzt zum Beispiel in der folgenden Weise:
Ich gebe Ihnen, Frau M., den Schlüssel zu den Gebäuden.
Ich gebe Ihnen allen den Schlüssel zu den Gebäuden.
Das gleiche „Problem“ gibt es zum Beispiel auch im Französischen mit dem höflichen vous oder ganz allgemein im Englischen mit you. Auch dort ist ohne Kontext nicht erkennbar, ob man sich an eine oder an mehrere Personen richtet.
Zu Ihren Fragen: Man verwendet die Anredepronomen so, weil es sich im Verlauf der Sprachentwicklung so ergeben hat und es im Allgemeinen so funktioniert. Es liegt keine bewusste und „logisch“ begründete Entscheidung zu Grunde. Es ist ja auch nicht logisch, die dritte Person für die Höflichkeitsform zu verwenden. Man kann also nicht sagen, dass der Plural gezielt eingeführt wurde oder umgekehrt abgeschafft werden könnte.
Grob vereinfacht dargestellt sieht die Entwicklung der Höflichkeitsform im Deutschen wie folgt aus: Zuerst gab es als Anrede für eine Person nur du. Ab dem 9. Jahrhundert begann man die Pluralform ihr als höfliche Anrede für eine Person zu verwenden. Später kam daneben die dritte Person Einzahl er bzw. sie auf, die eine größere Distanz zur angeredeten Person schafft. Noch später wurde diese Einzahl (unter dem Einfluss des Majestätsplurals) auch für nur eine Person langsam durch die Pluralform Sie ersetzt. Seit ca. dem 19. Jahrhundert sind nur noch du und Sie üblich. Letzteres, wie gesagt, für eine und für mehre Personen.
In anderen europäischen Sprachen gibt es andere „Lösungen“ für die höfliche Anrede. Zum Beispiel:
- Französisch: vous, 2. Pers. Plur. für eine und mehrere Personen
- Italienisch: Lei, 3. Pers. Sing. für eine Person; voi, 2. Person Plural für mehrere Personen
- Spanisch: Usted + Verb in der 3. Pers. Sing. für eine Person; Ustedes + Verb in der 3. Pers. Plur. für mehrere Personen
- Niederländisch: u + Verb in der 2. oder 3. Pers. Sing. für eine und für mehrere Personen
Von einem einheitlichen Prinzip kann hier also nicht die Rede sein – zumal für all diese Sprachen gilt, dass die richtige Verwendung der Höflichkeitsformen in verschiedenen Situationen noch ein bisschen komplizierter sein kann.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp