Der Infinitivsatz steht ohne aufforderndes „sollen“

Frage

Warum fällt im folgenden Satz das Modalverb weg, wenn man aus ihnen einen Infinitivsatz mit “zu” macht:

Das Kind bittet sein Eltern, sie sollen ihm eine neues Fahrrad kaufen.

Das wird als Infinitivsatz mit “zu”:

Das Kind bittet seine Eltern, ihm ein neues Fahrrad zu kaufen.

Das Modalverb “sollen” fällt im Infinitivsatz mit “zu” weg.

Im zweiten Satz fällt das Modalverb nicht weg:

Das Mädchen wünscht sich, dass es am Samstag auf die Party gehen darf.
Das Mädchen wünscht sich, am Samstag auf die Party gehen zu dürfen.

Wie heißt die Grammatikregel, dass das Modalverb im Infinitivsatz wegfällt?

Antwort

Guten Tag Herr B.,

eine Regel, die diesen Fall beschreibt, gibt es nicht. Ich kann aber trotzdem versuchen, aufzuzeigen, worum es hier geht.

Das Modalverb sollen hat in Ihrem Beispielsatz eine spezielle Funktion. Der Satz enthält einen uneingeleiteten Nebensatz mit einer indirekten Aufforderung. In dieser indirekten Aufforderung hat sollen die Aufgabe, den Aspekt der Aufforderung auszudrücken (mehr dazu hier).

Vergleichen Sie die folgenden Sätze mit jeweils einer direkten und einer indirekten Aufforderung oder Bitte. Das Modalverb sollen steht nur in der indirekten Aufforderung/Bitte:

Das Kind bittet seine Eltern: „Kauft mir ein neues Fahrrad!“
Das Kind bittet seine Eltern, sie sollen ihm ein neues Fahrrad kaufen.

Die Polizei fordert die Leute auf: „Bleiben Sie hinter der Absperrung!“
Die Polizei fordert die Leute auf, sie sollen hinter der Absperrung bleiben..

Wenn die (indirekte) Aufforderung in einem Infinitivsatz ausgedrückt wird, geschieht dies wie in der direkten Aufforderung ohne das Modalverb sollen:

Das Kind bittet seine Eltern: „Kauft mir ein neues Fahrrad!“
Das Kind bittet seine Eltern, ihm ein neues Fahrrad zu kaufen.

Die Polizei fordert die Leute auf: „Bleiben Sie hinter der Absperrung!“
Die Polizei fordert die Leute auf, hinter der Absperrung zu bleiben.

Modalverben haben sonst nicht diese Funktion. Dann stehen sie auch in Infinitivsätzen (soweit es möglich ist, einen Infinitivsatz zu bilden):

Das Mädchen wünscht sich, dass es am Samstag auf die Party gehen darf.
Das Mädchen wünscht sich, am Samstag auf die Party gehen zu dürfen.

Sie befürchtet, sie müsse zu Hause bleiben.
Sie befürchtet, zu Hause bleiben zu müssen.

Die Eltern meinen, dass sie es ihr nicht erlauben können.
Die Eltern meinen, es ihr nicht erlauben zu können.

Sie behauptet, sie dürfe nie irgendwohin.
Sie behauptet, nie irgendwohin zu dürfen.

Es nützt ihr aber nichts, dass sie es so sehr will.
Es nützt ihr aber nichts, es so sehr zu wollen.

Modalverben werden im Allgemeinen also auch in Infinitivsätzen verwendet. Für das Beispiel in Ihrer Frage gilt dann: Anstatt zu sagen, dass sollen im Infinitivsatz wegfällt, kann man besser sagen, dass bei indirekten Aufforderungen sollen in den Nebensatz eingefügt wird, um dort den Aspekt der Aufforderung auszudrücken.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Konjunktiv II: Bräuchte es auch „wöllte“ und „söllte“?

Frage

Ich höre immer mehr die Verbform „wöllte“ statt „wollte“ (als Konjunktiv). Dies scheint mir eine Analogie-Bildung zu „könnte“ zu sein, ist aber wohl (noch?) nicht korrekt. Wann kommt dann „söllte“? Was meinen Sie?

Antwort

Guten Tag Herr D.,

es ist tatsächlich anzunehmen, dass die Form wöllte eine Analogiebildung zu könnte, dürfte, müsste und wüsste ist. Durch den Umlaut unterscheiden sich diese Konjunktivformen deutlich vom Indikativ konnte, durfte, musste und wusste. Bei wollen und sollen hingegen wird nicht umgelautet (die Antwort auf die Frage nach dem Warum muss ich Ihnen an dieser Stelle schuldig bleiben). Dadurch gibt es bei wollen und sollen wie bei den regelmäßig konjugierten Verben keinen Unterschied zwischen dem Indikativ Präteritum und dem Konjunktiv II (Konjunktiv Präteritum): Die Form lautet in beiden Fällen wollte bzw. sollte.

Indikativ Präteritum Konjunktiv II (Präteritum)
durfte dürfte
konnte könnte
musste müsste
wusste wüsste
sollte sollte
wollte wollte

Es ist deshalb gar nicht so erstaunlich, dass die Formen wöllte und seltener auch söllte gebildet werden. Sie sind nicht nur in Übereinstimmung mit den entsprechenden Formen der anderen Modalverben (sowie von wissen), sondern auch ganz praktisch, weil sie den Konjunktiv so schön deutlich angeben.

Üblich und akzeptiert sind wöllte und söllte aber dennoch nicht. Ob oder wann es ihnen einmal gelingen wird, in die Standardsprache einzudringen, ist schwierig zu sagen. Vorläufig kommen sie dafür noch nicht häufig genug vor.

Eine andere Form, die mit den Modalverben verwandt ist, hat dies schon geschaft: bräuchte. In vielen Wörterbüchern und Grammatiken gilt bräuchte neben der regelmäßigen Form brauchte als standardsprachlich akzeptierte Konjunktivform.

Indikativ Präteritum Konjunktiv II (Präteritum)
brauchte brauchte/bräuchte

Während also die Verwendung von bräuchte mittlerweile mehr oder weniger problemlos ist (es gibt immer noch strengere Sprachhüter und -hüterinnen, denen diese Form gar nicht zusagt), sollte man die Formen wöllte und söllte (noch?) vermeiden, so praktisch sie auch sein mögen.

Diese Formen zeigen sehr schön, dass vieles, was in der Sprache als richtig gilt, weniger mit Logik und Effizienz als vielmehr mit allgemeinem Gebrauch und Konsens zu tun hat: Wenn es konnte/könnte, durfte/dürfte und musste/müsste heißt (Indikativ/Konjunktiv), müsste es logischerweise und praktischerweise auch wollte/wöllte und sollte/söllte sein. Gebräuchlich und akzeptiert sind aber nur wollte/wollte und sollte/sollte. Bei brauchte/brauchte bzw. brauchte/bräuchte ist heute sogar beides (mehr oder weniger) akzeptiert.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Komplexe Modalverbkonstruktionen: „Es müsste operiert worden sein“

Frage

Um was für eine Konstruktion handelt es sich hierbei: „Es müsste gestern operiert worden sein“? „Es müsste“ scheint mir Konjunktiv II zu sein. Aber der Rest? Ich freue mich, wenn Sie Licht in die Sache bringen könnten.

Antwort

Guten Tag Herr H.,

es handelt sich hier um eine Modalverbkonstruktion. Bei einer Modalverbkonstruktion wird ein Modalverb (dürfen, können, müssen, mögen, sollen, wollen) mit dem Infinitiv eines Vollverbs kombiniert. Hier wird müsste mit operiert worden sein verbunden:

müsste = Konjunktiv II Präteritum 3. Person Singular von „müssen“ (vgl. hier)
operiert worden sein = Infinitiv Perfekt Passiv von „operieren“  (vgl. hier)

Nach seiner Bedeutung wird der Konjunktiv II Präteritum auch Konjunktiv II Gegenwart genannt. Hier drückt müssen im Konjunktiv II zusammen mit einem Partizip Perfekt eine Vermutung in der Gegenwart über etwas Vergangenes aus:

Es müsste operiert worden sein.
= Es ist anzunehmen/wahrscheinlich, dass operiert worden ist.

Siehe auch die Angaben in der LEO-Grammatik zu dieser Verwendung von müssen.

Das ist nicht dasselbe wie:

Es hätte operiert werden müssen.

Damit wird gesagt, dass in der Vergangenheit nicht operiert wurde, obwohl hätte operiert werden müssen. Es ist also keine Vermutung, sondern eine Aussage über etwas, das in der Vergangenheit nicht geschehen ist, obwohl es hätte geschehen müssen (vgl. diesen älteren Blogartikel).

Noch komplexer ist diese Formulierung:

Es hätte operiert worden sein müssen.

Wenn die Formulierung überhaupt noch entzifferbar ist, bedeutet sie, dass zu einem Zeitpunkt in der Vergangenheit nicht operiert worden war, obwohl dies hätte geschehen sein müssen (verstehen Sie’s noch?). Es ist jedenfalls auch keine Vermutung.

Und wie sieht es mit einer Vermutung in der Vergangenheit aus? Sie lässt sich u. a mit dem Indikativ Präteritum von müssen ausdrücken:

Es musste operiert worden sein.
= Es war wahrscheinlich, dass operiert worden war.

Der langen Abschweifung kurzer Sinn: Das Problem bei komplexeren Modalverbkonstruktionen ist weniger, wie man sie korrekt benennt, als vielmehr, was genau mit ihnen gesagt wird oder gesagt werden soll. Häufig ist dann eine Umschreibung mit anderen Worten anzuraten, damit nicht diese Kritik laut wird: „Es hätte leichter verständlich formuliert werden können“.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp