Vergleiche mit „als“ und „wie“ im Nachfeld

Frage

Was ist richtig?

Ich finde, dass Kinder mehr als Eltern fernsehen.
Ich finde, dass Kinder mehr fernsehen als Eltern.

Antwort

Guten Tag Frau D.,

beide Sätze sind korrekt. Im Prinzip steht in einem Nebensatz die konjugierte (finite) Verbform ganz am Schluss. Das ist in diesem Satz fernsehen:

dass Kinder fernsehen.
dass Kinder viel zu viel fernsehen.
dass Kinder zusammen mit ihren Eltern fernsehen.

Zu dieser an und für sich sehr starken Regel gibt es – wie könnte es auch anders sein! – ein paar Ausnahmen. Eine davon betrifft Ihren Beispielsatz.

In Vergleichen wird der mit als oder wie eingeleitete Satzteil sehr häufig ganz an den Schluss ins sogenannte Nachfeld gesestzt:

Ich finde, dass Kinder mehr fernsehen als Eltern.
Sie ist gestern schneller gelaufen als je zuvor.
Hast du die Aufgabe gleich gelöst wie ich?
… weil die Firma doppelt so viel Gewinn gemacht hat wie im letzten Jahr.

Die Stellung im Mittelfeld ist allerdings auch möglich:

Ich finde, dass Kinder mehr als Eltern fernsehen.
Sie ist gestern schneller als je zuvor gelaufen.
Hast du die Aufgabe gleich wie ich gelöst?
… weil die Firma doppelt so viel Gewinn wie im letzten Jahr gemacht hat.

Siehe auch die Angaben zum sogenannten Nachfeld in der LEO-Grammatik.

Die Vergleichsgruppe mit als oder wie wird häufig deshalb ins Nachfeld gestellt, weil der Satz so leichter verständlich ist. Das sieht man vor allem bei längeren Sätzen. Vgl.:

Dieser Artikel soll zeigen, dass Vergleichsgruppen mit als und wie häufiger im Nachfeld als vor der rechten, abschließenden Satzklammer stehen.

Dieser Artikel soll zeigen, dass Vergleichsgruppen mit als und wie häufiger im Nachfeld stehen als vor der rechten, abschließenden Satzklammer.

Es lässt sich allerdings meistens darüber diskutieren, welche Variante wirklich leichter verständlich ist…

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Wie man es zu tun hat und wie es zu tun ist: haben oder sein + zu + Infinitiv

Frage

Ich hätte eine Frage zu diesen Sätzen:

Die Kündigung muss schriftlich erfolgen.
Die Kündigung hat schriftlich zu erfolgen.

Warum steht im zweiten Satz „haben + zu + Inf.“ und nicht „sein + zu + Inf.“? Ich habe noch andere Beispielsätze gefunden für dieses „haben + zu + Inf.“:

Jedes Hantieren an Einrichtungen des Bades hat zu unterbleiben.
Die Besucher haben für alle Schäden und Verunreinigungen aufzukommen.

Antwort

Guten Tag Herr T.,

die Konstruktionen ‚haben + zu + Infinitiv‘ und ‚sein + zu + Infinitiv‘ haben sehr ähnliche Bedeutungen. Es geht je nach Kontext um müssen, nicht dürfen oder können. Wann steht aber haben und wann sein? Der Unterschied hat nichts mit der Bedeutung müssen, nicht dürfen oder können zu tun. Wenn man es einmal weiß, ist es aber trotzdem einfach:

Die Konstruktion ‚haben + zu + Inf.‘ wird mit einem Satz im Aktiv umschrieben:

Die Kündigung hat schriftlich zu erfolgen.
= Die Kündigung muss schriftlich erfolgen.

Jedes Hantieren […] hat zu unterbleiben
= Jedes Hantieren […] muss unterbleiben.

Die Besucher haben für die Schäden aufzukommen.
= Die Besucher müssen für die Schäden aufkommen.

Sie haben sich hier nicht aufzuhalten.
= Sie dürfen sich hier nicht aufhalten

Ich habe meiner Aussage nichts hinzuzufügen.
= Ich kann meiner Aussage nichts hinzufügen.

Die Konstruktion ‚sein + zu + Inf.‘ wird mit einem Satz im Passiv umschrieben:

Die Kündigung ist schriftlich einzureichen.
= Die Kündigung muss schriftlich eingereicht werden.

Jedes Hantieren ist zu unterlassen.
= Jedes Hantieren muss unterlassen werden.

Die Schäden sind (von den Besuchern) zu vergüten.
= Die Schäden müssen (von den Besuchern) vergütet werden.

Dieser Aussage ist nichts hinzuzufügen.
Dieser Aussage kann nichts hinzugefügt werden.

Deutschlernende haben zu lernen (= müssen lernen), wie es zu formulieren ist (= formuliert werden muss). Wer Deutsch als Muttersprache spricht, macht es normalerweise automatisch richtig, aber vielen fiele es sicher schwer, wenn sie diesen Unterschied zu erklären hätten.

Siehe hierzu auch diese Seite in der LEO-Grammatik.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Wenn Pronomen sich häufen: „entgegengesetzt zu denen dessen, der …“

Frage

Ich komme in einer Frage einfach nicht weiter. Ich fand folgende Formulierung:

Auf der Bühne präsentierte der Schurke seine Absichten, die stets entgegengesetzt waren zu denen dessen, der die Bühne gerade verlassen hatte.

Ich bin eigentlich überzeugt, dass es heißen muss „entgegengesetzt zu denen desjenigen, der“, finde aber beim besten Willen den Grund nicht, warum nicht „dessen“ auch gehen könnte. Können Sie mir helfen?

Antwort

Guten Tag Frau L.,

eine Formulierung mit desjenigen wäre besser verständlich, aber dessen ist hier nicht falsch. Der Zweifel oder die Schwierigkeit entsteht dadurch, dass hier zwei Demonstrativpronomen und ein Relativpronomen aneinandergereiht werden: denen dessen, der. Gemeint ist damit ungefähr dies:

entgegengensetzt zu den Absichten des Menschen, der
entgegengensetzt zu den Absichten dessen, der
entgegengensetzt zu denen dessen, der

Eine solche Abfolge ist stilistisch insofern nicht sehr gelungen, als sie meist schwierig verständlich ist. Sie ist aber nicht ausgeschlossen:

Auf der Bühne präsentierte der Schurke seine Absichten, die stets entgegengesetzt waren zu denen dessen, der die Bühne gerade verlassen hatte.

Hier noch ein paar Beispiele solcher Formulierungen:

Weil sich das Wesen des Fußballs weniger in den Geschichten seiner Helden offenbart als in denen derer, die an ihm gescheitert sind.

Im Grunde unterscheiden sich unsere Gefühle nicht stark von denen derer, die uns hier nicht wollen.

Terroir ist also nicht nur der „lokale Fingerabdruck“ in einem Wein, sondern auch der dessen, der ihn zum Ausdruck bringt.

Ein Werk, das uns unseren Tod und den derer, die wir lieben, zeigt

Die zwei Seelen in Liszts Brust – die des musikalischen Visionärs und die dessen, der geistigen Frieden suchte – verschmolzen schon früh einmal.

[E]r hat damit wirklich die Grenzen des musikalisch Möglichen erweitert und auch die dessen, was in einer Oper szenisch für angemessen gehalten wurde

die Geschichten der Menschen, die die Kleider gefertigt haben, und die derer, die sie tragen.

Diese Sätze sind, wie gesagt, nicht falsch. Die Beispiele zeigen aber (falls man die Enerige dafür aufbringen kann, sie zu lesen), dass sie nicht leicht verständlich sind. Es wäre deshalb m.M.n. häufig besser, anders zu formulieren. Zum Beispiel:

Auf der Bühne präsentierte der Schurke seine Absichten, die stets entgegengesetzt waren zu denen desjenigen, der die Bühne gerade verlassen hatte.

Auf der Bühne präsentierte der Schurke seine Absichten, die stets denen der Person entgegengesetzt waren, die die Bühne gerade verlassen hatte.

Auf der Bühne präsentierte der Schurke seine Absichten, die stets den Absichten desjenigen entgegengesetzt waren, der die Bühne gerade verlassen hatte.

Wer gerne elegant gehoben formuliert, darf dies natürlich tun. Wer Mitleid mit den Lesenden hat, formuliert besser etwas „umständlicher“.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Das „es“ als Lückenbüßer in unvollständigen Vergleichssätzen

Frage

Meine Frage bezieht sich auf die Verwendung von „es“ in Vergleichssätzen mit „als“ oder „wie“. Ich finde Beispiele sowohl mit „es“ als auch ohne „es“. Beispiele:

Der Film ist besser, als ich erwartet habe.
Der Film ist besser, als ich es erwartet habe.

Der Film ist genauso gut, wie ich vermutet habe.
Der Film ist genauso gut, wie ich es vermutet habe.

Die Verben „erwarten“ und „vermuten“ sind hier nur als Beispiele zu verstehen, dasselbe gilt für „denken“, „annehmen“ usw. Ich verstehe das ehrlich gesagt überhaupt nicht. Welche Regel steckt hier dahinter?

Antwort

Guten Tag Herr L.,

hier bin ich eigentlich ein bisschen überfragt. Was folgt, ist deshalb als vorsichtiger Versuch einer Erklärung zu verstehen.

Viele Vergleichssätzen mit als oder wie können tatsächlich ein es enthalten, das allerdings häufig nicht steht:

Der Film ist besser, als ich [es] erwartet habe.
Der Film ist genauso gut, wie ich [es]vermutet habe.
Die Sache ist komplizierter, als du [es] denkst.
Es hat sich genau so zugetragen, wie ich [es] vermutet habe.

Die Aufgabe ist schwieriger, als [es] ihm lieb ist.
Es sich anders zugetragen, als [es] (von ihr) behauptet/gesagt/geschrieben/geschildert/… wird.

Dieses es hat die Funktion eines formalen Akkusativobjekts oder Subjekts:

Wen oder was habe ich erwartet? – es
Wer oder was ist ihm lieb? – es

Ohne dieses es fehlt dem Vergleichssatz also eigentlich ein Akkusativobjekt oder ein Subjekt:

Der Film war besser, als ich erwartet hatte.
Die Aufgabe ist schwieriger, als ihm lieb ist.

Das Verb erwarten verlangt nämlich obligatorisch ein Akkusativobjekt und die Wendung jemandem lieb sein hat normalerweise ein Subjekt. Die beiden Vergleichssätze oben sind also unvollständig. Sie haben kein Akkusativobjekt bzw. kein Subjekt.

Die „Regel“, die Sie suchen, scheint zu lauten: In Vergleichssätzen, in denen das Akkusativobjekt oder das Subjekt nicht genannt wird, kann fakultativ ein formales es eingefügt werden, das diese Rolle übernimmt.

Der Film war besser, als ich es erwartet hatte.
Die Aufgabe ist schwieriger, als es ihm lieb ist.

Ein ähnlicher Fall wird hier beschrieben.

Zusammenfassend: Vergleichssätze sind insofern unvollständig, als ihnen der Satzteil fehlt, um den es beim Vergleich geht. Wenn der fehlende Satzteil das Akkusativobjekt oder das Subjekt ist, übernimmt (mehr oder weniger selten) ein formales es diese Rolle.

Es handelt sich dabei übrigens oft um Fälle, bei denen auch eine Konstruktion mit dem Perfektpartizip möglich ist:

Der Film ist besser als erwartet.
Der Film ist genauso gut wie angenommen.
Die Sache ist komplizierter als gedacht.
Es hat sich genau so zugetragen wie vermutet.
Es hat sich anders zugetragen als (von ihr) behauptet/gesagt/geschrieben/geschildert.

Alles in allem ist es komplizierter geworden, als ich (es) gehofft hatte, oder einfach komplizierter als gehofft.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Aufgrund einer Erkältung oder etwas Ähnlichem?

Frage

Ich bin unsicher, welcher  Kasus in diesem Satz bei „etwas Ähnliches“ verwendet wird:

Das Kind fühlt sich sich aufgrund einer Erkältung oder etwas Ähnlichem unwohl.

Spontan würde ich hier den Dativ „etwas Ähnlichem“ für richtig halten. Müsste aber nicht der Genitiv stehen, weil Grippe ja auch Genitiv ist?

Das Kind fühlt sich sich aufgrund einer Erkältung oder etwas Ähnlichen unwohl.

Was ist hier richtig?

Antwort

Guten Tag Herr S.,

der zweite Satz ist nicht möglich. Wir stoßen hier wieder einmal an die Grenzen dessen, was im Deutschen mit dem Genitiv möglich ist. Im Genitiv kann nämlich nicht etwas Ähnlichen stehen. Als Begründung kann hier diese „Genitivregel“ genannt werden:

Eine Nominalgruppe kann nur dann im Genitiv stehen, wenn sie von einem gebeugten Artikelwort oder Adjektiv begleitet wird und mindestens ein Wort mit der Genitivendung er oder (e)s enthält (Ausnahmen: u. A. Eigennamen).

Die Wortgruppe etwas Ähnlichen enthält kein Wort mit einer Genitivendung er oder (e)s. Die Formulierung aufgrund etwas Ähnlichen ist deshalb nicht möglich.

Der erste Satz ist – zumindest standardsprachlich – auch nicht zu empfehlen, weil aufgrund den Genitiv oder eine von-Gruppe verlangt. Die von-Gruppe steht dann, wenn der Genitiv nicht möglich bzw. nicht ersichtlich ist.

mit Genitiv: aufgrund einer Krankheit
mit von-Gruppe: aufgrund von etwas Ähnlichem

Für Ihren Beispielsatz müssen Sie also auf eine andere Formulierung ausweichen. Am einfachsten ist es, einfach von zu ergänzen:

Das Kind fühlt sich sich aufgrund einer Erkältung oder von etwas Ähnlichem unwohl.
Das Kind fühlt sich sich aufgrund von einer Erkältung oder etwas Ähnlichem unwohl.
Das Kind fühlt sich sich aufgrund von Erkältung oder etwas Ähnlichem unwohl.

Da dies nicht immer zu stilistischen Meisterwerken führt, kann es oft auch helfen, ganz anders zu formulieren:

Das Kind fühlt sich unwohl, weil es eine Erkältung oder etwas Ähnliches hat.

Noch ein Beispiel, wie man besser nicht formuliert:

nicht: die Verlosung eines Geschenks oder etwas Ähnlichem

Sondern:

die Verlosung eines Geschenks oder von etwas Ähnlichem
die Verlosung von einem Geschenk oder etwas Ähnlichem
verlosen wir ein Geschenk oder etwas Ähnliches
wird ein Geschenk oder etwas Ähnliches verlost

Natürlich ist oder etwas Ähnlichem nicht immer falsch. Es kann oder muss stehen, wenn die Konstruktion den Dativ verlangt:

an einer Erkältung oder etwas Ähnlichem leiden
den Nagel mit einem Hammer oder etwas Ähnlichem einschlagen
Sie standen vor einem Eisentor oder etwas Ähnlichem.

Mit freundlichen Grüßen (oder etwas Ähnlichem)

Dr. Bopp

Das Feuer am Brennen halten

Frage

Kann man das Feuer auch standardsprachlich „am Brennen halten“ oder ist das Umgangssprache? […]

Antwort

Guten Tag Frau S.,

Formulierungen wie am Brennen halten gelten (noch?) als umgangssprachlich. In einem formaleren standardsprachlichen Kontext würde ich deshalb eher Formulierungen wie diese empfehlen:

das Feuer in Gang halten
das Feuer (die ganze Nacht) brennen lassen
das Feuer (mit dürrem Holz) unterhalten

Wie häufig bei stilistischen Fragen sollte man sich allerdings überlegen, ob man wirklich gleich den Rotstift zücken oder den ermahnenden Zeigefinger heben will, wenn einmal jemand etwas am Brennen halten will.

Ich halte in diesen dunklen Tagen die Weihnachtsbeleuchtung noch bis zum Dreikönigstag am Brennen 😉

Ein gutes neues Jahr!

Dr. Bopp

»Damals wie heute« und die Zeitform des Verbs

Frage

Geschwätz gab es damals wie heute.

ist der Satz, bei dem ich ein Problem habe. Nämlich, heute „gab“ es ja kein Geschwätz, es „gibt“ Geschwätz. Oder ist „damals wie heute“ eine stehende Wendung?

Antwort

Guten Tag Frau R.,

es handelt sich hier um einen Vergleich, den man – wie meistens bei Vergleichen – auch als eine Zusammenziehung betrachten kann. Dabei fällt in in einem der beiden zusammengezogenen Teilsätze einiges aus:

Geschwätz gab es damals wie heute.
Geschwätz gab es damals[,] wie [es] heute [Geschwätz gibt].

Geschwätz gibt es heute wie damals.
Geschwätz gibt es heute[,] wie [es] damals [Geschwätz gab].

In Vergleichen wie diesen ist das Weglassen von einer der beiden Verbformen auch dann möglich, wenn die Verbformen sich im Tempus voneinander unterscheiden (gab und gibt).

Ebenso oder ähnlich auch zum Beispiel:

Das gilt heute ebenso wie vor hundert Jahren.
Das galt vor hundert Jahren ebenso wie heute.

Gas kostet aktuell weniger als zu Kriegsbeginn.
Gas kostete zu Kriegsbeginn mehr als jetzt.

Der persönliche Kontakt war damals noch wichtiger als heute.
Der persönliche Kontakt ist heute weniger wichtig als damals.

Ehrenamtliche Arbeit sei heutzutage noch wichtiger als in der Vergangenheit.

Es ist also möglich, Gegenwärtiges und Vergangenes zu vergleichen, ohne ggf. die Verbformen wiederholen zu müssen.

Ich wünsche auch dieses Jahr wie in vergangenen Jahren allen schöne Weihnachtstage!

Dr. Bopp

Der Infinitivsatz steht ohne aufforderndes „sollen“

Frage

Warum fällt im folgenden Satz das Modalverb weg, wenn man aus ihnen einen Infinitivsatz mit “zu” macht:

Das Kind bittet sein Eltern, sie sollen ihm eine neues Fahrrad kaufen.

Das wird als Infinitivsatz mit “zu”:

Das Kind bittet seine Eltern, ihm ein neues Fahrrad zu kaufen.

Das Modalverb “sollen” fällt im Infinitivsatz mit “zu” weg.

Im zweiten Satz fällt das Modalverb nicht weg:

Das Mädchen wünscht sich, dass es am Samstag auf die Party gehen darf.
Das Mädchen wünscht sich, am Samstag auf die Party gehen zu dürfen.

Wie heißt die Grammatikregel, dass das Modalverb im Infinitivsatz wegfällt?

Antwort

Guten Tag Herr B.,

eine Regel, die diesen Fall beschreibt, gibt es nicht. Ich kann aber trotzdem versuchen, aufzuzeigen, worum es hier geht.

Das Modalverb sollen hat in Ihrem Beispielsatz eine spezielle Funktion. Der Satz enthält einen uneingeleiteten Nebensatz mit einer indirekten Aufforderung. In dieser indirekten Aufforderung hat sollen die Aufgabe, den Aspekt der Aufforderung auszudrücken (mehr dazu hier).

Vergleichen Sie die folgenden Sätze mit jeweils einer direkten und einer indirekten Aufforderung oder Bitte. Das Modalverb sollen steht nur in der indirekten Aufforderung/Bitte:

Das Kind bittet seine Eltern: „Kauft mir ein neues Fahrrad!“
Das Kind bittet seine Eltern, sie sollen ihm ein neues Fahrrad kaufen.

Die Polizei fordert die Leute auf: „Bleiben Sie hinter der Absperrung!“
Die Polizei fordert die Leute auf, sie sollen hinter der Absperrung bleiben..

Wenn die (indirekte) Aufforderung in einem Infinitivsatz ausgedrückt wird, geschieht dies wie in der direkten Aufforderung ohne das Modalverb sollen:

Das Kind bittet seine Eltern: „Kauft mir ein neues Fahrrad!“
Das Kind bittet seine Eltern, ihm ein neues Fahrrad zu kaufen.

Die Polizei fordert die Leute auf: „Bleiben Sie hinter der Absperrung!“
Die Polizei fordert die Leute auf, hinter der Absperrung zu bleiben.

Modalverben haben sonst nicht diese Funktion. Dann stehen sie auch in Infinitivsätzen (soweit es möglich ist, einen Infinitivsatz zu bilden):

Das Mädchen wünscht sich, dass es am Samstag auf die Party gehen darf.
Das Mädchen wünscht sich, am Samstag auf die Party gehen zu dürfen.

Sie befürchtet, sie müsse zu Hause bleiben.
Sie befürchtet, zu Hause bleiben zu müssen.

Die Eltern meinen, dass sie es ihr nicht erlauben können.
Die Eltern meinen, es ihr nicht erlauben zu können.

Sie behauptet, sie dürfe nie irgendwohin.
Sie behauptet, nie irgendwohin zu dürfen.

Es nützt ihr aber nichts, dass sie es so sehr will.
Es nützt ihr aber nichts, es so sehr zu wollen.

Modalverben werden im Allgemeinen also auch in Infinitivsätzen verwendet. Für das Beispiel in Ihrer Frage gilt dann: Anstatt zu sagen, dass sollen im Infinitivsatz wegfällt, kann man besser sagen, dass bei indirekten Aufforderungen sollen in den Nebensatz eingefügt wird, um dort den Aspekt der Aufforderung auszudrücken.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Warum „eines deren Produkte“ falsch klingt

Frage

Es geht um diesen Satz:

Ich wollte eine Nachricht an die Hersteller schreiben mit einem Hinweis bezüglich eines deren Produkte.

Das „bezüglich eines deren Produkte“ klingt für mich irgendwie falsch, aber ich weiß auch nicht, wie es anders heißen könnte. Es geht mir speziell um das „deren“. […]

Antwort

Guten Tag Herr V.,

die Formulierung bezüglich eines deren Produkte ist tatsächlich problematisch. Die „Schuldige“ ist die Genitivregel. Das ist keine Grammatikregel, die uns von Grammatikbüchern vorgeschrieben und an Schulen beigebracht wird, sondern eine Erklärung dafür, warum gewisse Formulierungen nicht möglich oder nicht üblich sind.

Diese Genitivregel sagt unter anderem, dass eine Wortgruppe nur dann im Genitiv stehen kann, wenn sie mindestens ein Wort mit der Genitivendung (e)s oder er enthält. Das ist bei der Wortgruppe deren Produkte nicht der Fall.

Wie steht es dann mit eines und seiner Genitivendung es? – Das Pronomen eines gehört nicht direkt zur Wortgruppe deren Produkte. Es ist hier nämlich kein Artikelwort, sondern ein Pronomen, das durch ein Attribut näher bestimmt wird. Dieses Attribut kann nicht „deren Produkte“ sein, weil es eine Genitivattribut sein müsste, also eine Wortgruppe im Genitiv. Das ist aber wegen der oben genannten Genitivregel nicht möglich.

Dies ist eine recht komplizierte (aber noch nicht wirklich vollständige) Darstellung, die zeigt, weshalb die Formulierung bezüglich eines deren Produkte Ihnen zu Recht falsch vorkommt. Wortgruppen mit vorangestelltem deren und dessen, die kein anderes Wort mit der Genitivendung (e)s oder er enthalten, können/sollten nicht im Genitiv stehen:

nicht: nach dem Tod deren Nachfolgerin
nicht: mit Hilfe dessen Brüder

Nicht möglich/üblich ist entsprechend:

nicht: mit einem Hinweis bezüglich eines deren Produkte
nicht: mit einem Hinweis zu einem deren Produkte

Möglich wird die Formulierung zum Beispiel dann, wenn man deren durch ein Possessiv mit der Genitivendung er ersetzt:

mit einem Hinweis bezüglich eines ihrer Produkte
mit einem Hinweis zu einem ihrer Produkte

Oder man weicht auf eine Formulierung mit „von“ aus:

mit einem Hinweis bezüglich eines von deren Produkten
mit einem Hinweis zu einem von deren Produkten

Ich hoffe dass der Fragesteller findet, dass eine seiner Fragen oder eine von seinen Fragen (aber nicht *eine dessen Fragen) so zufriedenstellend beantwortet wird.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Aus Angst oder vor Angst?

Frage

Erlauben Sie bitte die folgende Frage: Wo liegt in Bezug auf die Semantik der Unterschied zwischen „aus Angst“ und „vor Angst“?

Antwort

Guten Tag Herr M.,

man kann sagen, dass aus Angst den Grund für eine bewusste Handlung angibt. Man hat Angst und diese Angst ist die Ursache für eine bewusste Reaktion:

aus Angst schweigen
aus Angst handeln
aus Angst vor etwas flüchten

Mit vor Angst gibt man den Grund für eine unwillkürliche Reaktion an. Man hat Angst und diese Angst löst eine Reaktion aus, auf die man selbst keinen Einfluss hat:

vor Angst zittern
vor Angst weinen
vor Angst außer sich sein

Die Trennung wird aber nicht immer von allen genau so eingehalten. Sie ist auch nicht immer so eindeutig. So wäre es zum Beispiel bei einem verängstigten Hund schwierig zu entscheiden, ob er sich bewusst aus Angst oder unbewusst vor Angst hinter dem Sofa versteckt.

Auch der bildliche Sprachgebrauch, dessen wir uns häufig bedienen, steht einer genauen Trennung im Weg. Wenn wir aus Angst wegrennen, haben wir Angst und beschließen wir selbst, wegzurennen. Wenn wir vor Angst wegrennen, haben wir Angst und rennen unwillkürlich weg, ohne dass wir dies vorher bewusst entscheiden. Im ersten Fall entscheiden wir selbst, im zweiten Fall übernimmt bildlich die Angst die Entscheidung. Und wenn die Angst groß genug ist oder unerwartet schnell aufkommt, lässt sich wahrscheinlich kaum entscheiden, ob wir nun aus oder vor Angst wegrennen.

Mehr hierzu und dass es auch für zum Beispiel aus/vor Freude, aus/vor Zorn, aus/vor Leidenschaft, aus Überzeugung und vor Anstrengung gilt, finden Sie in diesem schon ziemlich alten Blogartikel.

Mit freundlichem Gruß

Dr. Bopp