Gestern las ich in einem Ferienbericht aus den Azoren, dass es dort einen Tag lang buchstäblich Bindfäden geregnet habe. Ich kann mir zwar vorstellen, dass es ausgiebig, sehr stark, heftig, sintflutartig oder eben Bindfäden regnet, aber auch auf den Azoren wird es wohl kaum je buchstäblich Bindfäden regnen. Darüber hätte man gerade im Sommerloch sicher in der Zeitung oder im Wetterbericht nach den Abendnachrichten etwas erfahren. Und was hätten die armen Azorer mit all den Bindfäden anfangen müssen?
Es geht um das Wort buchstäblich, das so viel wie im wahrsten Sinne des Wortes, regelrecht, ohne zu übertreiben bedeutet. Beispiele sind:
Er hat den Zirkus buchstäblich aus dem Nichts erschaffen.
Bei Rettungseinsätzen zählt buchstäblich jede Sekunde.
Weiter kann buchstäblich angeben, dass das nachfolgend Gesagte wörtlich und nicht etwa in einem übertragenen Sinne gemeint ist:
Schokolade ist buchstäblich in aller Munde.
Mit dauernd gekippten Fenstern heizen Sie buchstäblich zum Fenster hinaus.
Madonna hebt buchstäblich ab. (Sie plant einen Flug ins All …)
„L’Orfeo“ war buchstäblich atemberaubend. (Ein paar Zuschauer waren während der Vorstellung ohnmächtig geworden.)
Schreiender Junge erschreckt Hühner buchstäblich zu Tode. (Die Hühner sind vor Stress tatsächlich tot umgefallen.)
Vergleichen Sie nun die folgenden Sätze, bei denen eine gut gelungene einer weniger empfehlenswerten Verwendung von buchstäblich gegenübergestellt wird:
Teppiche werden schließlich buchstäblich mit Füßen getreten.
Dagegen ist nichts einzuwenden. Die Frage ist aber, wie Folgendes buchstäblich geschehen kann:
Menschenrechte werden hier buchstäblich mit Füßen getreten.
Zwei weitere Beispiele:
Sie haben mir den Müllcontainer buchstäblich vor die Haustüre gestellt.
In Aachen liegt die niederländische Sprache buchstäblich vor der Haustür.
Wie die niederländische Sprache, so seltsam sie manchmal klingen mag, im wörtlichen Sinne vor Aachener Haustüren liegen soll, ist mir ein Rätsel.
Eine Frau, die einmal spät abends nach Hause kam, wurde von einem Bären, der aus dem Hauseingang flüchtete, buchstäblich überrannt.
Die Zwerge wurden von Orks – der Höllenbrut Mordors und Isengards – buchstäblich überrannt.
Von Bären und Orks kann man, wenn man Pech hat, tatsächlich buchstäblich überrannt werden. Bei den nächsten zwei Sätzen mag man aber wieder hoffen, dass das Überrennen nicht ganz so buchstäblich erfolgte:
Einzige Medienfakultät Deutschlands wurde buchstäblich überrannt.
Dennoch wird die Kursleitung von Anmeldungen buchstäblich überrannt.
Ich könnte noch lange so weitermachen. Es geht mir nicht darum, dass buchstäblich nur buchstäblich verstanden werden könnte. Es ist ein Wort, das auch mit einer rein verstärkende Funktion verwendet werden darf. Die Beispiele sollen nur aufzeigen, dass man vorsichtig sein sollte, wenn man buchstäblich vor in übertragenem Sinne verwendete Ausdrücke stellt. Man riskiert dann nämlich, unfreiwillig humorvoll zu sein. Achten Sie darauf, wenn Sie einmal meinen, es regne schon so lange buchstäblich Bindfäden, dass Ihnen bald buchstäblich der Himmel auf den Kopf falle.