Was für eine Verbform ist „aufgehört haben würde“?

Frage

Gestern, habe ich etwas Interessantes gefunden:

Sie hoffte, dass der Regen bald aufgehört haben würde.
Wir waren uns sicher, dass sie das Problem bis Freitag gelöst haben würde.

Warum steht hier Infinitiv 2 + würde? Was ist diese grammatische Form? […]

Antwort

Guten Tag Her T.,

es geht hier um eine würde-Form, mit der „Zukunft in der Vergangenheit“ ausgedrückt werden kann.

Futur I → einfache würde-Form

Er nimmt auf niemand Rücksicht. Das wird er noch bereuen.
Er nahm auf niemand Rücksicht. Das würde er noch bereuen.

Wir wissen, dass Marianne um 17 Uhr ankommen wird.
Wir wussten, dass Marianne um 17 Uhr ankommen würde.

Futur II → Perfekt der würde-Form

Sie hofft, dass der Regen bald aufgehört haben wird.
Sie hoffte, dass der Regen bald aufgehört haben würde.

Wir sind uns sicher, dass sie das Problem bis Freitag gelöst haben wird.
Wir waren uns sicher, dass sie das Problem bis Freitag gelöst haben würde.

Die Formen aufgehört haben würde (o. würde aufgehört haben) und gelöst haben würde (o. würde gelöst haben) heißen ganz klassisch Konjunktiv II Futur II. Manchmal werden sie auch anders genannt, zum Beispiel Perfekt der würde-Form oder Konjunktiv II Vergangenheit mit würde.

Standardsprachlich sind diese Formen nur dann üblich, wenn wie in den Beispielen oben Zukunft in der Vergangenheit ausgedrückt wird. Sonst wählt man besser die Konjunktiv-II-Formen mit hätte:

besser nicht: Wenn der Regen früher aufgehört haben würde, wären wir nicht zu spät gekommen.
sondern: Wenn der Regen früher aufgehört hätte, wären wir nicht zu spät gekommen.

besser nicht: Sie behaupten, sie würden das Problem allein gelöst haben.
sondern: Sie behaupten, sie hätten das Problem allein gelöst.

Das Ganze könnte man jetzt auch noch im Passiv durchspielen (gelöst worden sein würde), aber das erspare ich Ihnen und mir für heute. Es sind schon genug Verbformen vorbeigekommen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Das Perfekt mit Bezug auf die Gegenwart

Frage

Wäre es grammatikalisch unkorrekt, im folgenden zweiten Satz das Präteritum zu verwenden? Sollte man in diesem Fall immer das Perfekt verwenden?

Ich kenne dieses Buch. Ich las es gestern.

Antwort

Guten Tag Herr M.,

im zweiten Satz sollte tatsächlich das Perfekt verwendet werden. Verzeihen Sie bitte, wenn ich bei der Erklärung etwas aushole:

Die Hauptzeiten der Vergangenheit sind das Perfekt und das Präteritum. Welche der beiden man verwendet, ist oft keine grammatische, sondern eine (unbewusste) stilistische Entscheidung.

Das Präteritum wird in der allgemeinen und in der Dichtersprache verwendet. Es ist das Haupttempus der Erzählung. Es ist die Zeitform, die normalerweise für erfundene Erzählungen und Tatsachenberichte verwendet wird.

Hannibals Truppen überquerten die Alpen.
Während der Besatzungszeit hungerte die Bevölkerung.
Sie arbeitete als Marketingdirektorin.
Ich verschlief und kam zu spät zur Arbeit.

Das Präteritum hat hier die gleiche Bedeutung wie das Perfekt. Die Beispielsätze können auch im Perfekt verwendet werden, ohne dass sich dabei die Bedeutung verändert.

Hannibals Truppen haben die Alpen überquert.
Während der Besatzungszeit hat die Bevölkerung gehungert.
Sie hat als Marketingdirektorin gearbeitet.
Ich habe verschlafen und bin zu spät zur Arbeit gekommen.

Stilistisch ist es meist besser, in formelleren Texten und in Erzählungen das Präteritum zu verwenden. Das Perfekt kommt in der gesprochenen Sprache häufig vor. In der Allgemeinsprache wird dat Präteritum tendenziell häufiger im Norden des deutschen Sprachraums verwendet, das Perfekt häufiger im Süden.

Nun endlich zu Ihrem Fall: Während das Präteritum immer durch das Perfekt ersetzt werden kann, gilt das Umgekehrte nicht. Das Perfekt wird häufig verwendet, um Vergangenes auszudrücken, das im Sprechzeitpunkt noch wichtig oder aktuell ist:

Es hat lange nicht geregnet, deshalb sind die Wiesen gelb.
Der Wettlauf findet heute statt. Alle haben lange dafür trainiert.
Ich habe den Zaun neu gestrichen. Ist er nicht schön geworden?

Bei dieser Verwendung des Perfekts kann es nicht durch das Präteritum ersetzt werden:

nicht: Es regnete lange nicht, deshalb sind die Wiesen gelb.
nicht: Der Wettlauf findet heute statt. Alle trainierten lange dafür.
nicht: Ich strich den Zaun neu. Ist er nicht schön geworden?

Das gilt auch für Ihr Beispiel:

Ich kenne dieses Buch. Ich habe es gestern gelesen.

Es wird gesagt, dass die Ich-Person das Buch jetzt kennt, weil sie es gestern gelesen hat. Es geht also um etwas Vergangenes (lesen) mit Auswirkung auf die Gegenwart (kennen), deshalb sollte hier für den Ausdruck des Vergangenen das Perfekt gewählt werden.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp