Das Perfekt mit Bezug auf die Gegenwart

Frage

Wäre es grammatikalisch unkorrekt, im folgenden zweiten Satz das Präteritum zu verwenden? Sollte man in diesem Fall immer das Perfekt verwenden?

Ich kenne dieses Buch. Ich las es gestern.

Antwort

Guten Tag Herr M.,

im zweiten Satz sollte tatsächlich das Perfekt verwendet werden. Verzeihen Sie bitte, wenn ich bei der Erklärung etwas aushole:

Die Hauptzeiten der Vergangenheit sind das Perfekt und das Präteritum. Welche der beiden man verwendet, ist oft keine grammatische, sondern eine (unbewusste) stilistische Entscheidung.

Das Präteritum wird in der allgemeinen und in der Dichtersprache verwendet. Es ist das Haupttempus der Erzählung. Es ist die Zeitform, die normalerweise für erfundene Erzählungen und Tatsachenberichte verwendet wird.

Hannibals Truppen überquerten die Alpen.
Während der Besatzungszeit hungerte die Bevölkerung.
Sie arbeitete als Marketingdirektorin.
Ich verschlief und kam zu spät zur Arbeit.

Das Präteritum hat hier die gleiche Bedeutung wie das Perfekt. Die Beispielsätze können auch im Perfekt verwendet werden, ohne dass sich dabei die Bedeutung verändert.

Hannibals Truppen haben die Alpen überquert.
Während der Besatzungszeit hat die Bevölkerung gehungert.
Sie hat als Marketingdirektorin gearbeitet.
Ich habe verschlafen und bin zu spät zur Arbeit gekommen.

Stilistisch ist es meist besser, in formelleren Texten und in Erzählungen das Präteritum zu verwenden. Das Perfekt kommt in der gesprochenen Sprache häufig vor. In der Allgemeinsprache wird dat Präteritum tendenziell häufiger im Norden des deutschen Sprachraums verwendet, das Perfekt häufiger im Süden.

Nun endlich zu Ihrem Fall: Während das Präteritum immer durch das Perfekt ersetzt werden kann, gilt das Umgekehrte nicht. Das Perfekt wird häufig verwendet, um Vergangenes auszudrücken, das im Sprechzeitpunkt noch wichtig oder aktuell ist:

Es hat lange nicht geregnet, deshalb sind die Wiesen gelb.
Der Wettlauf findet heute statt. Alle haben lange dafür trainiert.
Ich habe den Zaun neu gestrichen. Ist er nicht schön geworden?

Bei dieser Verwendung des Perfekts kann es nicht durch das Präteritum ersetzt werden:

nicht: Es regnete lange nicht, deshalb sind die Wiesen gelb.
nicht: Der Wettlauf findet heute statt. Alle trainierten lange dafür.
nicht: Ich strich den Zaun neu. Ist er nicht schön geworden?

Das gilt auch für Ihr Beispiel:

Ich kenne dieses Buch. Ich habe es gestern gelesen.

Es wird gesagt, dass die Ich-Person das Buch jetzt kennt, weil sie es gestern gelesen hat. Es geht also um etwas Vergangenes (lesen) mit Auswirkung auf die Gegenwart (kennen), deshalb sollte hier für den Ausdruck des Vergangenen das Perfekt gewählt werden.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Wusste der Onkel nicht mehr, wo er war oder wo er ist?

Frage

Mich quält seit einiger Zeit die Frage, wie der folgende Satz eigentlich richtig lautet:

Mein Onkel war verwirrt, er wusste gestern nicht mehr, wo er war.

Oder müsste es wie folgt heißen:

Mein Onkel war verwirrt, er wusste gestern nicht mehr, wo er ist.

Ich denke, ich würde es spontan vielleicht sogar richtig sagen, doch sobald man anfängt über etwas nachzudenken, geht es nicht mehr.

Antwort

Guten Tag Herr B.,

es gibt im Deutschen kaum feste Regeln zur Abfolge der Zeiten. Vieles ist möglich. Welche Zeitform man in Ihrem Beispiel wählt, hängt unter anderem davon ab, ob ein Gegenwartsbezug besteht oder nicht.

Mein Onkel wusste gestern nicht mehr, wo er ist.

Hier wird ein deutlicher Gegenwartsbezug hergestellt. Der Onkel ist zum Sprechzeitpunkt immer noch an demselben Ort, an dem er auch gestern war (und normalerweise ist).

Mein Onkel wusste gestern nicht mehr, wo er war.

Hier wird kein Gegenwartsbezug hergestellt. Es wird nichts darüber ausgesagt, ob der Onkel zum Sprechzeitpunkt noch am gleichen Ort wie gestern ist oder ob er jetzt an einem anderen Ort ist. Was zutrifft, ergibt sich (wenn es überhaupt wichtig ist) aus dem weiteren Zusammenhang. Zum Beispiel:

Mein Onkel wusste gestern nicht mehr, wo er war, aber jetzt ist er wieder zu Hause und nicht mehr verwirrt.

Mein Onkel wusste gestern nicht mehr, wo er ist/war, aber jetzt erkennt er sein Zimmer wieder.

Das Präteritum wusste im Hauptsatz und das Verb sein in Nebensatz machen die Wahl für war in diesem Satz wahrscheinlicher. Falsch ist ist aber nicht. Vgl. zum Beispiel:

Mein Onkel wusste gestern nicht mehr, wo er wohnt.
Mein Onkel wusste gestern nicht mehr, wo er wohnte.

Hier sind sogar noch weitere Zeitverhältnisse denkbar. Welche Zeitform man in solchen Fällen wählt, ist also eine Frage, die sich oft nicht so einfach und eindeutig beantworten lässt. Wichtig für das genaue Verständnis ist nicht unbedingt die gewählte Zeitform, sondern – wie so oft – der engere und weitere Zusammenhang.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp