Frage
Ich habe eine Frage zur Topikalisierung [ungefähr: im Satz an die erste Stelle vor das Verb stellen].
Es gibt keinen Grund, sich zu schämen.
Sich zu schämen, gibt es keinen Grund.
Der zweite Satz kommt mir falsch vor. Es ist ein betonter Objektsatz, ich wüsste deshalb nicht, was daran grammatikalisch falsch sein sollte, in voranzustellen. Wenn man die Infinitivgruppe mit dafür ankündigt, ist er sicher richtig:
Dafür, sich zu schämen, gibt es keinen Grund.
Ist der Satz ohne das Verweiswort dafür grammatikalisch richtig?
Antwort
Guten Tag Herr T.,
es geht hier um die Besetzung des Vorfeldes, das heißt darum, was in einem Satz vor der finiten Verbform steht. Dort können im Prinzip alle Arten von Satzgliedern stehen.
Dort können im Prinzip alle Arten von Satzgliedern stehen.
Im Prinzip können alle Arten von Satzgliedern dort stehen.
Alle Arten von Satzgliedern können im Prinzip dort stehen.
Nicht im Vorfeld stehen können u. a. Wörter oder Wortgruppen, die keine vollständigen Satzglieder sind.
Nicht: Alle Arten können von Satzgliedern im Prinzip dort stehen.
Nicht: Von Satzgliedern können alle Arten im Prinzip dort stehen.
Diese Sätze sind nicht möglich, weil alle Arten von Satzgliedern als Ganzes ein Satzglied ist und ein Satzglied nur als Ganzes verschoben werden kann.
Das ist auch in Ihrem ersten Beispielsatz der Fall. Die Infinitivgruppe sich zu schämen ist nicht ein Objekt, sondern ein Attribut zu einem Substantiv.
Es gibt keinen Grund, sich zu schämen.
Wen oder was gibt es?
keinen Grund, sich zu schämen
Die Infinitivgruppe sich zu schämen bestimmt als Attribut das Substantiv Grund näher (mehr dazu hier). Es ist Teil des Akkusativobjekts keinen Grund, sich zu schämen. Das Akkusativobjekt kann nur als Ganzes ins Vorfeld verschoben werden (auch wenn das ohne Kontext zu einem eher seltsamen Satz führt):
Keinen Grund, sich zu schämen, gibt es.
nicht: Sich zu schämen, gibt es keinen Grund.
Bei einer Formulierung mit dafür hingegen ist die Erststellung im Satz möglich. Es liegt ihr aber eine andere Konstruktion zugrunde:
Es gibt keinen Grund dafür, sich zu schämen (keinen Grund für Scham)
Wofür gibt es keinen Grund?
dafür, sich zu schämen (für Scham)
Die Präpositionalgruppe dafür, sich zu schämen ist ein individuell erfragbares Satzglied. Entsprechend kann sie ins Vorfeld verschoben werden:
Dafür, sich zu schämen, gibt es keinen Grund.
Die Infinitivgruppe kann im zweiten Satz oben nicht an erster Stelle stehen, weil sie kein eigenständiges Satzglied, sondern „nur“ eine nähere Bestimmung innerhalb eines Satzgliedes ist. Der Satz Sich zu schämen, gibt es keinen Grund ist also nicht richtig, aber wenn er trotzdem einmal rausrutscht: Es gibt keinen Grund, sich zu schämen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bopp
Eine weitere Möglichkeit der Topikalisierung könnte lauten:
„Sich zu schämen, dafür gibt es keinen Grund.“
Richtig, aber auch dann geht es nicht ohne dafür.
Man kann diese Satzstellung so interpretieren: Die Infinitivgruppe steht im sog. Vorvorfeld. Das Vorfeld ist durch dafür besetzt. In dieser Weise im Vorvorfeld Stehendes wird hervorgehoben und im Folgenden durch ein Verweiswort wiederaufgenommen. Im Vorvorfeld können auch Wörter oder Wortgruppen stehen, die nicht allein im Vorfeld stehen können:
“Natürlich” ist alles noch ein bisschen komplizierter. Wichtig ist, dass bei diesem Satz auch die zweite Art der Topikalisierung nicht ohne dafür auskommt, also eigentlich auf eine andere Satzstrukur zurückzuführen ist.