Ich habe/bin gelegen, gesessen und gestanden.

Frage

Ich habe gerade entdeckt, dass die Verben stehen und liegen in Canoonet mit beiden Hilfsverben, haben und sein, aufgelistet sind. Ist dies so richtig? Wann benutzt man welches der beiden Hilfsverben?

Antwort

Guten Tag Fau N.,

Die Verben liegen, stehen und sitzen können tatsächlich sowohl mit dem Hilfsverb haben als auch mit dem Hilfsverb sein stehen. In diesem Fall ist aber kein subtiler Bedeutungsunterschied und keine grammatische Finesse zu beachten. Diese Verben werden im nördlichen deutschen Sprachraum mit haben und im südlichen deutschen Sprachraum mit sein verwendet. Wenn also jemand sagt: Ich habe auf dem Bett gelegen“, kommt er oder sie wahrscheinlich aus dem Norden. Käme die Person aus dem Süden, hätte sie eher gesagt: Ich bin auf dem Bett gelegen.“ Es handelt sich hier um regionale Varianten, die übrigens beide als korrekt gelten.

An der Waterkant hat man also vor verschlossener Tür gestanden, weil man zu lange in der Hafenkneipe gesessen hat, während man am Alpenrand vor verschlossener Tür gestanden ist, weil man zu lange im Beisel oder der Beiz gesessen ist.

Dies gilt auch für viele – aber nicht alle! – Zusammensetzungen mit liegen, stehen und sitzen:

Ich habe/bin eine Stunde lang im Lift festgesessen.
Du hast/bist wieder einmal völlig danebengelegen.
Für diesen Fall hätte/wäre unser ungarischer Professor zur Kandidatur bereitgestanden.
Die Tür hat/ist weit aufgestanden.

Aber man kommt im gesamten deutschen Sprachraum zu spät, weil man nicht rechtzeitig aufgestanden ist.

Sehen Sie hierzu auch hier den 3. Abschnitt „stehen, liegen, sitzen“.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Gelenkschmerzen oder Gelenksschmerzen?

Heute geht es wieder einmal um regionale Unterschiede, die es überall und in allen Bereichen der Sprache gibt. Diesmal ist weder die Rechtschreibung noch die Schweiz betroffen. Wir bleiben allerdings im Süden:

Frage

Wie schreibt man zusammengesetzte Wörter mit dem Wort Gelenk als Teil, wie z.B. Gelenk(s)arthroskopie, Gelenk(s)kapsel, Gelenk(s)kollaps, Gelenk(s)knorpel etc. – mit oder ohne Fugen-s? Ich bin aus Österreich. Kann es sein, dass es da Unterschiede zu Deutschland gibt?

Antwort

Sehr geehrte Frau R.,

Ihre Vermutung ist richtig. Im Allgemeinen werden Zusammensetzungen mit Gelenk an erster Stelle ohne Fugen-s gebildet:

Gelenkentzündung
Gelenkkapsel
Gelenkschmerzen
usw.

In Österreich sind aber auch die Formen mit Fugen-s üblich:

Gelenksentzündung
Gelenkskapsel
Gelenksschmerzen
usw.

Die letzten Worte richten sich an eingefleischte Teutonen: Die Formen mit Fugen-s sind in Österreich nicht nur üblich, sondern auch korrekt! Regionale Unterschiede gibt es eben auch im Bereich der Wortbildung.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Frau Weiß und Herr Strauß in der Schweiz

Herr M. hatte noch eine Ergänzungsfrage zu seiner gestrigen Frage zum Eszett in der Schweiz:

Frage

In meinem Nachnamen steckt auch ein ß. Wird ein ß im Nachnamen einer in der Schweiz lebenden Person auch „eingeschweizt“?

Antwort

Sehr geehrter Herr M.,

auch Ihr Name wird in der Schweiz orthographisch „eingebürgert“. Auf Schweizer Tastaturen (ja, das gibt es!) ist das Eszett nämlich schlichtweg nicht vorhanden. Da man den Buchstaben im Schreibunterricht auf der Schule nicht lernt, fließt er auch von Hand geschrieben – wenn überhaupt – nur ganz harzig und ungewohnt aus Feder, Kugelschreiber oder sonstigem Schreibinstrument. Deshalb wird in der Regel das ß auch in Eigennamen zu einem doppelten s.

Leider weiß ich aber nicht, wie das ß amtlich gehandhabt wird, wenn eine Frau Weiß oder ein Herr Strauß sich bei einer schweizerischen Gemeinde als Einwohner anmeldet oder gar den roten Pass mit dem weißen Kreuz erhält. Ich vermute, dass sie dann als Frau Weiss und Herr Strauss durchs amtliche Leben gehen. Es ist auch nicht völlig unmöglich, dass das ganz föderalistisch von Gemeinde zu Gemeinde oder von Kanton zu Kanton unterschiedlich geregelt ist. Wenn zufällig eine in der Schweiz wohnhafte Frau Weiß, ein zum Schweizer gewordener Herr Strauß oder sonst jemand, der damit zu tun hat(te), diesen Beitrag liest: Erlösen Sie uns bitte von dieser Ungewissheit.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Die Maße und die Masse in der Schweiz

Frage

Wie unterscheidet ein Schweizer die Worte Masse und Maße?

Antwort

Sehr geehrter Herr M.,

die Schweizer unterscheiden Masse und Maße tatsächlich nicht im Schriftbild, aber dadurch entstehen keine Probleme. Normalerweise gibt nämlich schon der direkte Satzzusammenhang an, was gemeint ist (N.B.: Schweizer Leser sind sich im Gegensatz zu anderen Lesern von vornherein gewöhnt, dass ein Vokal vor ss kurz ODER lang ausgesprochen werden kann):

die idealE Masse eines Atoms
die idealEN Masse eines Models
Die Masse IST eineS der Masse, die …
Die Masse SIND nicht bekannt.

Auch wenn die Beugung der umstehenden Wörter nicht angibt, welches der beiden Wörter gemeint ist, gibt der weitere Satzzusammenhang Aufschluss: Man spricht selten von der Masse eines Mannequins und ebenso selten von den Maßen eines Atoms. Wenn es zu Wartezeiten kommt, weil die Menschen in Massen zuströmen, ist recht eindeutig, dass damit nicht in Maßen gemeint ist. In den äußerst seltenen Fällen, in denen auch das nichts hilft, kann man immer noch zu anderen Mitteln greifen. Zum Beispiel:

Masse (in cm) = Maße
Masse (Länge x Breite x Höhe) = Maße
Masse (in kg) = Masse
in grossen Massen = in Massen
mit (statt in) Massen geniessen = in Maßen (mit Massen genießen = unwahrscheinlich)

Das Gleiche gilt auch für Busse-Buße und Russen-Rußen. So außergewöhnlich ist dieser Fall übrigens nicht. Der Rest der Deutsch schreibenden Welt geht nämlich auch problemlos mit Fällen wie den folgenden um:

das Heroin – die Heroin
das Band – die Band
der Gang – die Gang
modern (Verb) – modern (Adjektiv)
die Gründung (das Gründen) – der Gründung (Grün-Dung)
die Hochzeit (Trauung) – die Hochzeit (Blütezeit)
umfahren – umfahren
der anhaltende Zug (stoppt) – der anhaltende Regen (stoppt nicht!!)

Die menschliche Sprache ist viel zu robust, als dass sie sich schon wegen einer kleinen Zweideutigkeit aus der Bahn werfen ließe. Es lassen sich natürlich immer mehr oder weniger theoretische Fälle konstruieren, in denen diese Zweideutigkeit tatsächlich zu Verständigungsproblemen führen kann, aber dann muss man halt ein anderes Wort wählen oder ein kurze Erläuterung mitliefern. Nicht einmal im Physikunterricht an Schweizer Schulen oder in schweizerischen Patentbüros, wo man sich regelmäßig sowohl mit Massen als auch mit Maßen abgibt, hat das Fehlen des Buchstabens ß je zu größeren Problemen geführt.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Die Bogen und die Bögen

Frage

In unserer örtlichen Presse, aber auch in der Öffentlichkeit wird der Plural von Bogen immer wieder mit Bögen gebildet. Ich meine, gelernt zu haben, dass der Plural von Bogen auch Bogen ist. Oder unterscheidet man sogar zwischen dem Papierbogen und dem architektonischen Bogen bei der Mehrzahlbildung?

Antwort

Sehr geehrter Herr F.,

der Plural von der Bogen lautet in der Standardsprache die Bogen. Dass eine Variante korrekt ist, heißt aber nicht unbedingt, dass eine andere falsch sein muss. Vor allem im südlichen deutschen Sprachraum wird nämlich neben die Bogen auch in der Standardsprache oft die umgelautete Form die Bögen verwendet. Das gilt offensichtlich nicht nur für den südlichen deutschen Sprachraum, denn Sie wohnen in der Nähe von Braunschweig (Niedersachsen) und treffen diese Form in Ihrer lokalen Presse an. Bei der Wahl zwischen o und ö spielt die Bedeutung übrigens (fast) keine Rolle. Neben die Triumphbogen, die Papierbogen und die Geigenbogen gibt es auch die Triumphbögen, die Papierbögen und die Geigenbögen. Bei die Ellbogen oder die Ellenbogen sind die Formen mit Umlaut standardsprachlich allerdings nicht üblich.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Ähnlich dem Genitiv hat es der Dativ manchmal schwer

Frage

Bitte helfen Sie mir bei folgendem Problem: Für jede Bewegung benötigt der Muskel Energie, ähnlich einem Motor. Ist dieser Satz so richtig oder müsste es …ähnlich eines Motors heißen?

Antwort

Sehr geehrter Herr N.,

ähnlich wird mit dem Dativ verwendet:

jemandem/einer Sache ähnlich sein

Dies gilt auch dann, wenn ähnlich wie eine Präposition verwendet wird:

Einem Insekt ähnlich fliegt dieses Fluggerät in alle Richtungen.
Ähnlich einem Insekt fliegt dieses Fluggerät in alle Richtungen.
Dieses Fluggerät fliegt einem Insekt ähnlich in alle Richtungen.
Dieses Fluggerät fliegt in alle Richtungen, ähnlich einem Insekt.

Richtig ist also:

Für jede Bewegung benötigt der Muskel Energie, ähnlich einem Motor.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Nachtrag

Wenn man es richtig machen will, wird man manchmal ganz unsicher. Das gilt auch bei der Frage, ob man den Dativ oder den Genitiv verwenden muss. Ersterer soll ja gemäß einer populären Meinung des Letzeren Untergang sein. Wenn einem auch im südlichen deutschen Sprachraum wegen dem schlechten Wetter oder manchmal sogar trotz dem schlechten Wetter als falsch angestrichen wird, weil es unbedingt Genitiv sein müsse, dann ist die Gefahr der Übergeneralisierung groß. So liest man oft gemäß eines Berichtes und entsprechend Ihres Auftrags statt richtig gemäß einem Bericht und entsprechend Ihrem Auftrag. Der Genitiv klingt eben irgendwie gebildeter – und irgendwie auch richtiger“. Man hört und liest schließlich viel häufiger etwas über falsch verwendete Dative als über nicht korrekte Genitive. Dann ist es nicht mehr weit bis zum Motto: Besser einen Genitiv zu viel als einen zu wenig“. Das Wörtchen ähnlich steht aber trotzdem mit dem Dativ.

Dem Ralf seine Eltern

Frage

Es gab Diskussionen zu folgendem Satz: Das sind dem Ralf seine Eltern. Mein Opa sagte, dieser Satz sei falsch. Richtig müsse es heißen: Das sind Ralfs Eltern. Ist denn der erste Satz so falsch?

Antwort

Sehr geehrter Herr H.,

wenn es um das Hoch- oder Standarddeutsche geht, hat Ihr Opa recht. Man sagt und schreibt:

Das sind Ralfs Eltern.
Das ist Tante Annas Auto.

Formulierungen wie die folgenden gelten im Standarddeutschen als nicht korrekt:

Das sind dem Ralf seine Eltern.
Das ist der Tante Anna ihr Auto

Diese Wendungen gelten als umgangssprachlich oder mundartlich. Woher stammen sie? In vielen Dialekten, vor allem im südlichen deutschen Sprachraum, gibt es (fast) keinen Genitiv. Standardsprachliche Formulierungen wie Ralfs Eltern sind dort also gar nicht möglich, denn Ralfs ist ja eine Genitivform. Besitzverhältnisse im weiteren Sinne werden deshalb mit von+Dativ oder eben dem … sein … bzw. der … ihr … ausgedrückt. Hinzu kommt, dass ebenfalls vor allem in den Dialekten des südlichen deutschen Sprachraums Personennamen in der Regel nur mit Artikel verwendet werden:

der Ralf
die Tante Anna
usw.

Das Fehlen des Genitivs und die Verwendung des Artikels bei Eigennamen führen zu Formulierungen wie dem Ralf seine Eltern. In den jeweiligen Dialekten und Varianten der Umgangssprache sind solche Formulierungen deshalb grammatisch richtig. Sätze mit dem Genitiv wie Wessen Auto ist das? – Das ist Tante Annas Auto (statt Wem sein Auto ist das? – Das ist der Tante Anna ihr Auto) sind dort falsch oder führen zumindest zu hochgezogenen Augenbrauen im Sinne von Was ist denn mit dem/der los? Wenn Sie zum Beispiel bayrisch, schwäbisch oder schweizerdeutsch reden, ist somit gegen dem Ralf seine Eltern gar nichts einzuwenden. Ganz im Gegenteil! Wenn Sie aber danach auf Hochdeutsch umschalten, gilt wie gesagt nur Ralfs Eltern als korrekt.

Sehen Sie hierzu auch diese Grammatikseite.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Das Elsässische

Vor meinem Urlaub hatte ich versprochen, Sie zu informieren, falls mir etwas Besonderes zur Situation der deutschen Sprache im Elsass auffallen sollte. Die elsässischen Dialekte gehören ja wie ihre nächsten Verwandten das Badische und das Baseldeutsche zu den im südwestlichen deutschen Sprachraum gesprochenen alemannischen Dialekten. Mir ist vor allem aufgefallen, dass mir fast nichts aufgefallen ist. Alles ist französisch angeschrieben und in Geschäften, Restaurants, Museen und auf der Straße hört man als Tourist – außer natürlich von anderen Touristen – eigentlich nur Französisch. Natürlich hab ich meinem Berufsinteresse gehorchend manchmal etwas besser aufgepasst und dann doch vor allem auf dem Land vor allem ältere Semester elsässisch miteinander sprechen gehört.

Das stimmt mit den Zahlen des INSEE, des französischen Instituts für Statistik und Wirtschaftsforschung, überein, nach denen im Jahre 2002 nur noch 40 Prozent der elsässischen Bevölkerung den Dialekt sprachen und bei den Jüngeren sogar nur noch einer von vier sich manchmal des Elsässischen bediente. Der Dialekt werde vor allem in der Familie und im engeren Freundeskreis gesprochen. Wie viele andere Dialekte scheint auch das Elsässische langsam von der Hochsprache der Schule und des Fernsehens verdrängt zu werden. Da aber der Dialekt und die Hochsprache zwei verschiedenen Sprachfamilien angehören, sodass es praktisch keine gleitenden Übergangsformen geben kann, sieht die Sprachrealität ganz anders aus als für andere Dialekte des Deutschen. Auch die bewegte Geschichte dieser Region ist wohl für die Stellung des Elsässischen nicht ganz ohne Einfluss.

Kenner und Sprecher des Elsässischen bitte ich für diese völlig unzureichende Darstellung der Sprachsituation im Elsass um Entschuldigung. Ein paar Tage Urlaub reichen eben nicht aus, sich besser mit der Situation bekannt zu machen. Deshalb gehe ich jetzt gleich wieder auf das Niveau des unbefangenen deutschsprachigen Besuchers zurück. So fiel mir auf, dass eine Bäckerei überall eine Boulangerie ist, „sogar“ wenn sie in Ampfersbach steht und den Namen Schaffhauser trägt. Namen wie Strasbourg, Mulhouse und Le Haut-Kœnigsbourg erinnern zwar an den alemannischen Ursprung, sehen aber richtig schön französisch aus und klingen auch so. Wenn man aber Ortsnamen wie Col de la Schlucht, Ammerschwihr, Niedermorschwihr und Voegtlinshoffen oder Gastronomisches wie kougelhopf, bäeckeoffe und Gewürztraminer ohne zu stolpern in einen französischen Satz einbauen will, muss man wohl als Elsässer oder Elsässerin geboren worden sein. So viel ist mir dann also doch aufgefallen.

Wie dem auch sei, das Elsass und die Vogesen sind bestimmt eine Reise wert!

Schibboleth

Ein netter Kollege hat mich auf den Begriff Schibboleth hingewiesen, der recht exotisch aussieht und für ein interessantes Phänomen verwendet wird. Es handelt sich um eine Art Losungswort. Es geht aber nicht um Losungswörter, wie wir sie aus Abenteuer-, Kriegs- und Piratenfilmen kennen. Diese werden vorher abgesprochen und sollten danach nur Eingeweihten bekannt sein. Ein Schibboleth funktioniert auch anders als Passwort und PIN, die modernen Varianten des Losungswortes. Schibboleth kommt aus dem Hebräischen und bedeutet wörtlich Getreideähre. Die Bedeutung Losungswort stammt aus der Bibel:

(5) Gilead besetzte die nach Ephraim führenden Übergänge über den Jordan. Und wenn ephraimitische Flüchtlinge (kamen und) sagten: Ich möchte hinüber!, fragten ihn die Männer aus Gilead: Bist du ein Ephraimiter? Wenn er Nein sagte, (6) forderten sie ihn auf: Sag doch einmal «Schibboleth». Sagte er dann «Sibboleth», weil er es nicht richtig aussprechen konnte, ergriffen sie ihn und machten ihn dort an den Furten des Jordan nieder. So fielen damals zweiundvierzigtausend Mann aus Ephraim. (Richter 12, 5-6)

Ein Schibboleth ist also Wort, das Anderssprachige nicht korrekt aussprechen können. Es kann deshalb als Losungswort verwendet werden, mit Hilfe dessen man Fremde „entlarven“ kann. Das konnte manchmal für die so Ertappten wie für die Ephraimiter böse Folgen haben. Während der Sizilianischen Vesper 1282, einem Aufstand der Sizilianer gegen die Franzosen, erging es Leuten, die das sizilianische Wort ciciri nicht richtig aussprechen konnten, schlecht. Offenbar war das ein Wort, das der französischen Zunge gar nicht lag. Ein anderes Beispiel ist der Name der niederländischen Stadt Scheveningen. Während des Zweiten Weltkrieges sollen niederländische Widerstandskämpfer mit Hilfe dieses Wortes deutsche Infiltranten erkannt haben. Das s und das ch werden nämlich getrennt voneinander ausgesprochen (wobei das ch am besten richtig schön kratzend klingen sollte), was für Deutsche vor allem am Anfang eines Wortes sehr schwierig bis unmöglich ist.

Schibboleth wird auch in einem übertragenen Sinne verwendet. So versuchten amerikanische Soldaten im Zweiten Weltkrieg mit Hilfe der Kenntnisse des Baseballs echte Amerikaner von feindlichen Spionen und Infiltranten zu unterscheiden. Nicht die Aussprache, sondern kulturgebundene Kenntnisse dienten als Schibboleth.

Natürlich gibt es auch harmloserer Beispiele: Nur wenige Nichtdeutschsprachige könne das Wort Streichholzschächtelchen richtig aussprechen. All diese sch, ch und h in einem Wort sind für die meisten Fremdsprachigen eine zu große Herausforderung. Und auch innerhalb des deutschen Sprachraumes gibt es solche Erkennungswörter. So erkennt der Bayer am Oachkatzlschwoaf den „Preißn“, das heißt jeden Nicht-Bayern deutscher Zunge. Das Plattdeutsche revanchiert sich hierfür mit dem Eekkattensteert, das die gleiche Bedeutung hat wie Oachkatzlschwoaf, aber für die Bayern unaussprechlich sein soll. Das bekannteste Schweizer Beispiel hat nichts mit einem Eichhörnchenschwanz zu tun, sondern mit einem Küchenmöbel, dem Chuchichäschtli (Küchenkästchen). Da die Deutschschweizer das ch so richtig schön kratzen lassen, erkennt man mit Hilfe des Chuchichäschtli, ob jemand ein Uwe, ein Horst oder jemand aus dem großen Kanton ist. Für die nichtschweizerische Leserschaft: ein Uwe, ein Horst oder einer aus dem großen Kanton ist ein Deutscher. Diese beiden typisch deutschen Vornamen kommen bei Schweizern nicht vor. Sie sind deshalb in gewisser Weise Schibboleths. Die Bezeichnung „großer Kanton“ (auch „großer Nordkanton“ genannt) bedarf wohl keiner Erklärung.

Auch auf der sozialen Ebene gibt es Schibboleths: richtige Wortwahl und richtiger Akzent. So lernen wir im Musical „My Fair Lady“, dass nur wer „Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühn“ richtig sagen konnte, sich ein Mitglied der gehobeneren Gesellschaft nennen durfte. Ganz so streng ist das heutzutage nicht mehr, aber es gibt viele Bereiche, in denen Wörter und Ausdrucksweisen nicht nur der Kommunikation, sondern auch dazu dienen, die Dazugehörenden zu erkennen und die anderen auszugrenzen.

Ich fahre zu oder nach …?

Sagt man nach oder zu? Das ist eine Frage, die schon an verschiedenen Orten behandelt worden ist. Da sie aber immer wieder auftaucht, kann ich es nicht lassen, hier auch einmal meine Antwort zu veröffentlichen.

Frage

Wir streiten uns ob es heissen muss:

Ich fahre zu OBI oder
Ich fahre nach OBI

(OBI ist ein Baumarkt)

Antwort

Sehr geehrter Herr G.,

es lohnt sich meistens nicht, über Sprachfragen zu streiten. Sehr oft haben nämlich beide Seiten irgendwie recht. So auch in diesem Fall.

Im Standarddeutschen sagt man:

Ich fahre zu Obi.

Man verwendet nach in diesem Zusammenhang nur bei geographischen Namen (Länder, Regionen, Ortschaften, Inseln), die keinen Artikel haben:

Ich fahre nach Österreich.
Ich fahre nach Bayern.
Ich fahre nach Barcelona.
Ich fliege nach Hawaii.

Außerdem verwendet man nach noch in nach Hause und bei den Himmelsrichtungen (zum Beispiel nach Norden).

Bei geographischen Namen mit Artikel verwendet man in – außer bei Inseln:

Ich fahre in den Schwarzwald.
Ich fahre in die Tschechische Republik.
Ich fliege in die Vereinigten Staaten.
Ich fliege auf die Hawaii-Inseln.

Sonst verwendet man meistens zu:

Ich fahre zum Bäcker.
Ich fahre zum Bahnhof.
Ich fahre zum Standesamt.
Ich fahre zur Kirche.

Bei Personen- und Firmennamen:

Ich fahre zu meiner Schwester.
Ich fahre zu Herrn G.
Ich fahre zu Bauhaus/Globus/Hellweg/Hornbach/Toom/…
Ich fahre zu Obi.

Soweit die Standardsprache. In der Umgangssprache hält man sich nicht überall an diese Regeln. So verwendet man zum Beispiel im nördlichen/nordwestlichen deutschen Sprachraum oft nach statt zu: Ich fahre nach Obi. Und im süddeutschen Sprachraum, wo ich herkomme und wo man Namen meisten mit Artikel verwendet, wundert sich niemand, wenn Sie sagen: Ich fahre zum Obi.

Standardsprachlich korrekt ist nur Ich fahre zu Obi. Zu Obi fährt man aber meistens in einer Situation, in der man sich in der Umgangssprache unterhält. Wenn Sie also in Norddeutschland sind oder norddeutsche Wurzeln haben, können Sie ohne Weiteres auch Ich fahre nach Obi sagen. In einer informellen Situation kann Ihnen das niemand übelnehmen. Wenn Sie allerdings zum Beispiel einen formellen Brief schreiben, ein offizielles Interview geben oder einen Prospekt für Obi gestalten, sollten Sie nur das im der Standardsprache übliche zu verwenden.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp