Über oder mehr als 100 000 Menschen?

Frage

Ständig lese ich der Zeitung – hören kann ich es selbstverständlich auch –:

Über 100 000 Menschen haben es bereits gesehen.

Meiner Kenntnis nach ist das Wort über falsch gebraucht. Es gehört in die Gruppe von an, auf, in, über, vor und zwischen. Ich meine, dass es mehr als heißen muss. Liege ich richtig?

Antwort

Sehr geehrter Herr G.,

das Wörtchen über wird im Deutschen – auch in der Standardsprache – vor Kardinalzahlen mit der Bedeutung mehr als verwendet:

Wir haben über eine halbe Stunde gewartet.
ein Stadt mit über 100 000 Einwohnern
die über siebzehn Jahre alten Jugendlichen

Dieser Gebrauch ist allgemein verbreitet, gebräuchlich und akzeptiert. Er wird in allen größeren Wörterbüchern angegeben.

Das ist eigentlich gar nichts Außergewöhnliches. Das Wort über gehört tatsächlich in die Reihe der Wörter wie an, auf, in, hinter, über, unter, vor, zwischen. Diese Wörter haben eine räumliche Bedeutung. Sie geben an, wie verschiedene Objekte im Raum zueinander stehen. All diese Wörter werden aber nicht nur räumlich, sondern auch in „übertragenem“ Sinne verwendet. Sehr typisch sind zeitliche Verwendungen. Die räumliche Anordnung wird in bildlichem Sinne auf die Zeit übertragen. Beispiele sind:

in dieser Woche
über
die Feiertage
vor drei Tagen
zwischen
Weihnachten und Neujahr
am Montag
die Nacht auf den Dienstag
usw.

Damit haben sie ihre Rolle in der Sprache aber noch lange nicht ausgespielt. Sie werden nämlich auch mit anderen Bedeutungen und Funktionen verwendet. Sehen Sie anhand einiger Beispiele, wo das Wörtchen über überall auftauchen kann :

über etwas nachdenken
über
alle Maßen
über
kurz oder lang
über
dem Stricken einnicken
drei Grad über Null
über
drei Meter breit
den ganzen Tag über
u.a.m.

Auch die Wendung über 100.000 Menschen mit der Bedeutung mehr als 100.000 Menschen ist, wie bereits gesagt, allgemein übliches, korrektes Deutsch.

Man verwendet ein ganz ähnliches, aus dem Räumlichen übertragenes Bild, wie wenn man von einer hohen oder einer höheren Zahl spricht. Ganz wörtlich, das heißt räumlich gesehen, sind alle Zahlen gleich „hoch“ oder „niedrig“. Als abstrakte Begriffe nehmen sie ja keinen Raum ein. Erst im übertragenen Sinne kann man sagen, dass zwanzig eine höhere Zahl ist als zehn. Das Bild stammt wohl daher, dass zum Beispiel ein Stapel von zwanzig Steinen, Holzblöcken oder Büchern höher ist als ein Stapel von zehn. Wenn es also um mehr als 100.000 Menschen geht, ist ihre Zahl höher als 100.000, d.h. sie liegt über 100.000. Von hier aus ist es dann kein großer Schritt mehr bis zu über 100.000 Menschen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Des Kanton Zürichs, des Bezirk Rostocks, des Land Kärntens: immer dieser Genitiv!

Frage

Was ist richtig: des Kantons Zürich oder des Kanton Zürichs? Im Internet finde ich beide Schreibweisen – oft sogar im gleichen Dokument.

Antwort

Sehr geehrter Herr G.,

richtig ist des Kantons Zürich. Der sogenannte Kern der Wortgruppe ist hier Kanton. Zürich ist eine genauere Bestimmung (hier: Apposition), die hinter diesem Kern steht. Bei dieser Art geographischer Bezeichnungen wird nur der Kern der Wortgruppe gebeugt:

der Kanton Zürich – des Kantons Zürich

Andere Beispiele:

der Stadtteil St. Pauli  –  des Stadtteils St. Pauli (nicht: des Stadtteil St. Paulis)
der Weiler Heuberg  –  des Weilers Heuberg (nicht: des Weiler Heubergs)
der Bezirk Rostock  –  des Bezirks Rostock (nicht: des Bezirk Rostocks)
das Land Kärnten  –  des Landes Kärnten (nicht: des Land Kärntens)
die Stadt New York  – der Stadt New York (nicht: der Stadt New Yorks)

Sehen Sie hierzu auch diese Grammatikangaben.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Am Montag, dem/den 12. Januar 2009

Hier wieder einmal ein Anwärter auf einen Platz ganz oben in der Liste der meistgestellten Fragen:

Frage

Ich habe eine grammatikalische Frage zu einer Einladung. Heißt es: am Montag, dem 12. Januar 2009 oder am Montag, den 12. Januar 2009?

Antwort

Sehr geehrte Frau K.,

beide Formulierungen sind möglich und gebräuchlich:

am Montag, dem 12. Januar 2009
am Montag, den 12. Januar 2009

Wenn das Datum nach dem Wochentag genannt wird, steht es meistens im gleichen Fall wie der Wochentag:

Heute ist Montag, der 12. Januar 2009.
Die Sitzung ist für den Montag, den 12. Januar(,) geplant.
Basel, Montag, den 12. Januar
am Abend des Montags, des 12. Januars

Im Dativ (nach am) wird die Datumsangabe aber oft auch im Akkusativ verwendet:

Die Sitzung findet am Montag, dem 12. Januar(,) statt. oder
Die Sitzung findet am Montag, den 12. Januar(,) statt.

Die Formulierung mit den wird nicht von allen als stilistisch gut akzeptiert. Diese Meinung teile ich nicht, aber es gilt wie so oft: Wenn Sie ganz sicher sein wollen, dass niemand etwas an Ihrer Formulierung auszusetzen hat, verwenden Sie am besten am Montag, dem …

Hier noch ein Verweis auf die Grammatik und die Kommaregeln.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Von der Grippe ergriffen

So, jetzt gehts wieder. Ich bin wieder voll einsatzfähig. Eigentlich müsste ich sagen „fast voll einsatzfähig“, aber das Husten hören Sie ja nicht. Auch meine noch weniger als sonst glockenhell tönende Stimme stört Sie wohl kaum beim Lesen. Diese „Gebrechen“ mussten unbedingt noch erwähnt werden, denn Männer sind nun einmal wehleidig und Dr. Bopp ist eben auch nur ein Mann. Das muss jetzt voll ausgekostet werden.

Genau das werde ich jetzt auch tun. Da dieses Jahr für mich einen mäßigen Anfang genommen hat, verdiene ich es, mit einem meiner Lieblingsthemen anzufangen zu dürfen: Wortgeschichte. Welches Wort liegt da näher als das Wort Grippe?

Auch die Grippe (das Wort, nicht etwa die Krankheit) haben wir vom früheren Hauptlieferanten für Fremdwörter, dem Französischen, übernommen. Es wurde dort offenbar zum ersten Mal für die Grippeepidemie von 1743 verwendet. Das französische Wort grippe bedeutete unter anderem Laune, Grille. Es geht auf gripper zurück, das die Bedeutung packen, ergreifen hat. Von hier an weichen die verschiedenen Erklärungen leicht voneinander ab: Die Grippe wurde so genannt, weil sie wie ein launenhaftes Etwas unerwartet zuschlägt (von grippe) oder weil sie große Gruppen von Menschen hart anpackt (von gripper). Vielleicht war es ja auch einfach eine Kombination dieser beiden Bedeutungen. Das Wort wurde dann Ende des achtzehnten Jahrhunderts ins Deutsche übernommen.

Ich habe bis jetzt noch nicht herausgefunden, wie man die Grippe vor der Ankunft des Wortes Grippe im Deutschen nannte. Vielleicht war man einfach krank. Influenza, das andere, inzwischen veraltete Wort für Grippe, kam nämlich auch erst im achtzehnten Jahrhundert auf. Es stammt aus dem Italienischen, wo es anfänglich nur Einfluss bedeutete. Später bezeichnete influenza auch Ansteckung, Epidemie, weil diese damals unerklärlichen Phänomene dem Einfluss der Sterne zugeschrieben wurden. Noch später wurde das Wort speziell für die Grippe verwendet. Mit dieser Bedeutung ist es dann ins Deutsche und zum Beispiel auch ins Englische (influenza, flu) übernommen worden.

Ob es nun eine launenhafte Grille ist, die einen ergreift, oder der unerklärliche Einfluss der Sterne, so schön, wie die wortgeschichtlichen Erklärungen klingen, ist die Krankheit leider nicht.  Allen Grippebefallenen wünsche ich gute Besserung.

Frohe Weihnachten

In den nächsten Tagen werde ich „Dr. Bopp“ im Büro lassen und selber nicht hingehen. Wer jetzt noch sprachliche Fragen haben sollte, wird sich also etwas gedulden müssen. Gerade in diesen Tagen sollte man vielleicht noch mehr als sonst bedenken, dass es sehr vieles sehr viel Wichtigeres gibt als fehlerfreies Schreiben und korrekte standarddeutsche Formulierungen.

Frohe Weihnachten wünscht Ihnen

Ihr Dr. Bopp

Warum Widerspruch nicht Wiederspruch ist

Frage

Wieso schreibt man Widerspruch und nicht Wiederspruch? Beim Sprechen hört man doch ein langes i, das normalerweise mit ie geschrieben wird. Kommt das Wort nicht von wieder = nochmals?

Antwort

Guten Tag K.,

das wider in Widerspruch gehört zur Präposition wider mit der Bedeutung entgegen, gegen. Das Adverb wieder bedeutet erneut, nochmals. Beim Widerspruch sagt man etwas gegen etwas. Man sagt nicht erneut etwas. Deshalb schreibt man ihn mit i und nicht mit ie. Sehen Sie hierzu auch die Rechtschreibseiten zu wider und zu wieder.

Ihre Frage ist aber sehr gerechtfertigt, denn wider gehört zu einer Gruppe von Wörtern, die in den amtlichen Regeln ausdrücklich erwähnt werden, weil sie mit einfachem i geschrieben werden, obwohl das i lang gesprochen wird. Andere Beispiele sind: dir, Bibel, gib!, Igel und Tiger sowie drei andere Wortpaare wie wider/wieder: Lid/Lied, Mine/Miene, Stil/Stiel.

Außerdem haben wieder und wider den genau gleichen Ursprung. Erst im 17. oder 18. Jahrhundert haben gelehrte Häupter die unterschiedliche Schreibung wider = gegen und wieder = erneut eingeführt. Diese unterschiedliche Schreibung gilt noch immer und wird wohl auch noch zukünftigen Generationen von Schreibern und Schreiberinnen Schwierigkeiten bereiten.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Schmunzel! Freu! Hüpf!

Frage

Es gibt eine Erscheinungsform des Verbes, die ich in keiner Grammatik beschrieben finde. Ein Beispiel aus einem Chat:

– Du hast gewonnen.
– *freu* *hüpf*

Oder in folgender Situation: A soll B in seinem Zimmer nicht stören. A macht es trotzdem absichtlich, indem er zu B ins Zimmer geht, auf und ab springt und dabei in den Raum ruft: „Stör! Stör!“ Können Sie zu dieser Form etwas sagen?

Antwort

Sehr geehrter Herr B.,

diese Wortformen werden unter anderem Inflektive genannt, weil sie unflektiert, d.h. nicht gebeugt sind. Ihre Form entspricht dem reinen Verbstamm, den man erhält, wenn man bei der Grundform (Infinitiv) die Endung -en resp. -n weglässt: freuen, schmunzeln. Sie werden wie zum Beispiel aha, pfui, hallo und Mensch! zu den Interjektionen gezählt. Wie diese sind sei eine Art Zwischenrufe, die nicht in die Struktur eines Satzes eingebettet sind.

Die Inflektive sind im Deutschen vor allem durch die Comics bekannt geworden. Wer diese Hefte einmal gelesen hat, kennt Wörter wie:

schepper, krach, rumpel
seufz, ächz, stöhn

Dieser Tatsache verdanken die Inflektive – wie ich dank einem Hinweis von Henk nun auch weiß – die eher inoffizielle Bezeichnung Erikative. Die im Jahr 2005 verstorbene Dr. Erika Fuchs hat als Übersetzerin amerikanischer Comics sehr viele dieser Inflektive geprägt und über die Donald-Duck- und Micky-Maus-Hefte im deutschen Sprachraum bekannt gemacht. Sehen Sie hierzu diesen Wikipedia-Eintrag.

Die Inflektive oder Erikative kommen auch in der Werbesprache und noch häufiger in der SMS-, E-Mail- und Chat-Sprache vor, wo sie unter anderem auch für die sogenannten Emoticons (Smileys) stehen:

🙂 = *freu*

Von hier aus sind sie auch in die gesprochene Umgangssprache durchgedrungen, wie Ihr Beispiel „Stör! Stör!“ sehr schön zeigt. Im Standarddeutschen werden Sie in der Regel nicht verwendet.

Grüß!

Dr. Bopp

Cannabisähnlich und acetylsalicylsäurehaltig

Frage

In unserer Fachliteratur (Pharmazie) werden häufig Wortverbindungen wie die folgenden verwendet:

Placebo-kontrolliert
Cannabis-ähnlich
Dosis-abhängig
Acetylsalicylsäure-haltig
u. Ä.

Es geht mir um die richtige Schreibung solcher Wörter. Ist die vorgestellte Schreibweise richtig, erlaubt, empfohlen oder falsch? Schreibt man nicht besser placebokontrolliert, cannabisähnlich usw.?

Antwort

Sehr geehrter Herr S.,

Zusammensetzungen werden in der Regel zusammengeschrieben. Der Bindestrich kann unter anderem dazu verwendet werden, unübersichtliche und sehr lange Zusammensetzungen besser lesbar darzustellen. Vor allem – aber nicht nur – in technischen und anderen fachsprachlichen Bereichen wird diese „Übersichtlichkeit“ oft etwas übertrieben, sodass es zu einer Art Inflation von Bindestrichen kommen kann.

Ich empfehle in den meisten Fällen die Zusammenschreibung, da man den Lesern und Leserinnen in der Regel viel längere Wörter zumuten kann, als man denkt:

placebokontrolliert
cannabisähnlich
dosisabhängig

Da die amtlichen Rechtschreibregeln meiner Meinung nach ganz zurecht keine festen Angaben machen, wann man diesen verdeutlichenden Bindestrich verwenden soll (z.B. ab wie vielen Buchstaben), ist in diesen Fällen eine Schreibung mit Bindestrich zwar nicht empfehlenswert, aber nicht grundsätzlich falsch.

Nur im letzten Fall würde ich eventuell der Lesbarkeit zuliebe einen Bindestrich verwenden:

Acetylsalicylsäure-haltig
oder: acetylsalicylsäurehaltig

Die entsprechenden Rechtschreibregeln finden Sie hier:

Zusammenschreibung
Verdeutlichender Bindestrich
Groß- und Kleinschreibung

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bopp

Zimt

Unser französische Freund Jean-Claude mag Zimt nicht. Mit dieser Abneigung zu leben ist für ihn kein größeres Problem, denn Zimt lässt sich bei durchschnittseuropäischer Ernährung relativ einfach vermeiden, vorausgesetzt dass man auf den Genuss von Apfelkuchen verzichtet, dessen genaue Rezeptur man nicht kennt. Doch dann kommt die Adventszeit. Dann wird plötzlich alles stimmungsvoll „verweihnächtlicht“. Bei Backwerk und anderem Süßen geschieht das – sagt Jean-Claude – vor allem mit Zimt. Wahrscheinlich übertreibt er ein bisschen, aber es kann gut sein, dass die erhöhte Zimteinnahme gar nicht so auffällt, wenn einem dieses Gewürz bei nicht allzu aufdringlicher Verwendung eigentlich ganz gut schmeckt.

Jean-Claudes Abneigung kam mir gestern beim Anblick dreier Adventskerzen und dem Genuss von etwas Zimtigem in den Sinn. Wer mich kennt, kann es erraten: Es packte mich die Neugier nach dem Wort Zimt. Es ist so kurz und bündig, dass es eigentlich keinen Spielraum zum Rätseln lässt. Wenn man es von heute aus zurückverfolgt, ergeben sich ungefähr diese Etappen:

Zimt, Zimmet
mittelhochdeutsch: zimin, zinnemin, zinmint
althochdeutsch: zinamin, cinimin
lateinisch: cinnamum
griechisch: kínnamon (vgl. z. B. englisch cinnamon, polnisch: cynamon);
semitisch: qinnamon

Das Letzte hat vielleicht etwas mit malaysisch kayu manis = süßes Holz zu tun, aber das scheint ziemlich unsicher zu sein.

Weniger interessant als die genaue Wortgeschichte finde ich die Tatsache, dass das Wort trotz aller Klangveränderungen in direkter Linie ohne jegliche Bedeutungsverschiebung zurückverfolgt werden kann. Der Name bleibt so hartnäckig am Gewürz hängen wie gemäß unserem französischen Freund dessen Geschmack im Gaumen.

Dies gilt weniger für die französische Bezeichnung cannelle, die viel jünger ist. Sie bezieht sich auf die Form der Zimtstangen, denn cannelle bedeutete einfach Röhrchen, Stängel. Dieses Wort gibt es übrigens auch im Deutschen: Kaneel bezeichnet die besonders edle Zimtart des Ceylon-Zimtbaumes, der ursprünglich in Sri Lanka (Ceylon) vorkam. Das Wort Kaneel kam aber nicht direkt aus Frankreich, sondern über das Holländische zu uns. Der Gewürzhandel mit dem Osten war ja früher lange Zeit fest in der Hand der Holländer.

Da Zimt im Niederländischen immer noch kaneel heißt und auch die Dänen und Schweden den Zimt kanel nennen, würde es mich gar nicht wundern, wenn man im Norden Deutschlands an einigen Orten nicht nur die edle Sorte, sondern allen Zimt Kaneel nennen würde. Doch dazu konnte ich keine Angaben finden. Was man nicht alles zum Namen eines Gewürzes schreiben kann …